Wirtschaft und Börsen entfernen sich immer weiter von der politischen Realität. Das gilt im amerikanischen Wahlkampf, aber auch weltweit mit Blick auf die chinesische Wirtschaft in einem geopolitisch rasch schwieriger werdenden Umfeld.
Die Wirtschaftsexperten sind sich einig, dass der gegenwärtige Höhenflug der Aktienmärkte weniger zu tun hat mit den fundamentals, also dem voraussichtlichen Geschäftsgang pandemiegeschädigter Unternehmen, als vielmehr mit dem zur Krisenbekämpfung generierten Geldfluss in einer Zeit tiefster Zinsen. Die absurd hohe Bewertung des Autoherstellers Tesla und diverser Tech-Aktien sind sprechende Beispiele.
Aber noch erstaunlicher erscheint, wie gering die Finanzmärkte das Gewicht politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen auf den künftigen Wirtschaftsgang und damit auch die längerfristigen Marktbewegungen einschätzen.
Aktuelles Beispiel sind Kommentare in den USA, welche eine Machtübernahme in Washington durch die Demokraten –Präsidentschaft und beide Parlamentskammern – im November als «schlecht» für Wall Street sehen. Schlecht? Schlimmer als ein kurzfristiger «Trump Bump», welcher Wenige noch reicher werden liess, schlimmer als unausgewogene Steuerkürzungen, die die amerikanische Mittelschicht – die tragende Säule von Gesellschaft und Wirtschaft – ausbluten lassen, schlimmer als die Weiterführung der bemerkenswert unfähigen und unmoralischen Präsidentschaft von Trump?
Die Bilanz der vergangenen dreieinhalb Jahre könnte für die Gesellschaft der USA nicht schlechter ausfallen. Aber ebenso für die Wirtschaft, jedenfalls in längerfristiger Perspektive.
Die traditionell wirtschaftsfreundliche Republikanische Partei ist, mit wenigen Ausnahmen, zur kopfnickenden Clique ihres Präsidenten degeneriert. Würdig einer Bananenrepublik, nicht aber der ältesten Republik der Welt, welcher aufgrund von Geschichte, Grösse, Macht und politischem System weiterhin eine Führungsrolle in der Welt zukommen sollte. Vier weitere Jahre mit Trump würden da wohl weitere Schäden zur Folge haben. Eine Rückkehr zu politischer, moralischer, aber auch wirtschaftlicher Normalität erscheint nur mit den Demokraten am Ruder möglich.
Das bedeutet allerdings nicht, dass die Rückkehr zur Normalität eine simple Wiederaufnahme der Geschichte nach vier verlorenen Jahren wäre. Die Welt und speziell China haben sich gewandelt. Unter ihrem zweiten «Grossen Vorsitzenden» Xi Jinping ist die Volksrepublik nicht nur selbstbewusster, sondern auch aggressiver geworden.
Von der Unterdrückung der Minderheiten im Westen, über die totale Kontrolle seiner Bürger bis zur Einverleibung von Hongkong und der südchinesischen See wandelt sich das Reich der Mitte unter Xi zum evil empire im Reagan’schen Sinne.
Wirtschaftsverkehr mit China, dem zweitgrössten Markt und grössten Produktionsstandort der Welt, erscheint unvermeidlich, krankt aber am grossen Übel der mangelnden Gegenseitigkeit. Ein Beispiel stellt der Mobilfunkstandard 5G dar. Huawei will trotz Nabelschnur zur eigenen Regierung überall auf der Welt als unverdächtiger Zulieferer für Kommunikation, einem traditionell heiklen Gebiet, tätig werden. Umgekehrt denkt Peking überhaupt nicht daran, Nokia und Ericsson gleiche Chancen bei der eigenen Telecom-Infrastruktur einzuräumen.
Westliche Firmen sind als Zulieferer eingeladen, Hochtechnologie im Rahmen internationaler «Belt and Road»-Projekte beizusteuern, nur um dann auf Drittmärkten von staatlich subventionierter Konkurrenz chinesischer Gesamtsysteme, mit ebendieser Technologie, bedrängt zu werden. Gute zwei Drittel aller Fälle von Knowhow-Diebstahl und wirtschaftlichem Nachrichtendienst, die das US-Justizministerium gegenwärtig verfolgt, haben ihren Ursprung in China. Viele westliche Unternehmer im Land der Mitte klagen über den mit Geschäften verbundenen Zwangstransfer von Knowhow.
Dessen ungeachtet werden viele Marktbeobachter nicht müde, von einer erstaunlich raschen Erholung der chinesischen Wirtschaft zu berichten, mit entsprechend günstigen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft und damit die weltweiten Finanzmärkte.
Dies dürfte jedoch zu kurz greifen. Erstens steigen zwar die Produktionszahlen in China, nicht aber der entsprechende inländische Konsum. Vom Absatz in Chinas pandemiegeschädigten Auslandsmärkten ganz zu schweigen.
Chinas damals aufstrebende Wirtschaft kam in der Folge der Finanzkrise von 2008/09 eine Lokomotivrolle für die Weltwirtschaft zu. Das ist heute nicht mehr der Fall, denn seine Wirtschaft ist gesättigt und drückt entsprechend in Drittmärkte. Dort aber, und das ist der zweite Grund, stehen heute andere und mehr Hürden im Weg, speziell politischer Art. Dem Rausschmiss von Huawei aus Grossbritannien dürften weitere in Europa folgen, sei es aus eigenen Sicherheitsüberlegungen oder auf Druck der USA – der übrigens auch unter einer Präsidentschaft von Biden nicht nachlassen wird.
Chinas überzogene wirtschaftspolitische Reaktion auf Australiens Verurteilung des Vorgehens in Hongkong, die Aggression gegen Indien im Himalaya haben nicht nur politische Folgen – die Verstärkung der Zusammenarbeit innerhalb der sogenannten «Quad» der USA, Japan, Australien und Indien als antichinesisches Gegengewicht im Grossraum Asien-Pazifik –, sondern auch negative Auswirkungen auf den gegenseitigen Wirtschaftsverkehr.
Bis anhin scheint Peking davon auszugehen, dass westliche Gier nach Marktanteilen in China politische Bedenken und Hindernisse wie Boykotte verdränge. Letztlich vor die Wahl gestellt zwischen chinesischen und amerikanischen, ebenso generell westlichen Märkten, dürfte der Entscheid praktisch aller grossen privatwirtschaftlichen Unternehmen aber zugunsten Letzterer ausfallen.
Marktbeobachtung allgemein wird gut daran tun, sich an die politische Konfrontation zwischen China und einem guten Rest der Welt, nicht nur den USA, zu gewöhnen. Der chinesische Markt, ebenso wie chinesische Wertpapiere tragen ein im Vergleich mit westlichen Pendants höheres politisches Risiko mit sich.