Meinung

Was bedeutet die Flut der politischen Veränderungen in China?

Eine Reihe politischer und regulatorischer Vorstösse in China hat im Unternehmenssektor zu Verunsicherung geführt. Die Börsen reagierten zeitweise schockiert. Die Parteiführung unter Xi Jinping verfolgt klare Ziele.

Jörg Wuttke
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China hat im vergangenen Jahr eine Reihe von politischen Veränderungen erlebt. Auch wenn sie von aussen betrachtet chaotisch und unkoordiniert erscheinen mögen, folgen sie doch einem zentralen Thema: der Lösung einiger der wichtigsten Probleme Chinas in den Augen von Präsident Xi Jinping.

Angesichts der niedrigen Vergleichsbasis zum Vorjahr wächst Chinas Wirtschaft immer noch ansprechend; die Regierung sieht daher nach wie vor keinen Druck, die Konjunktur anzukurbeln. Offenbar sieht der Staatschef die Umstände dieses Jahres als eine seltene Gelegenheit, strukturelle Probleme in Angriff zu nehmen – und die Anweisungen von Xi werden wortgetreu befolgt.

Weckruf für die Parteiführung

Die jüngste Änderung der Politik spiegelt sowohl die internationalen als auch die inländischen Umstände. Erstens hat die Rivalität zwischen den USA und China die Denkweise von Präsident Xi erheblich beeinflusst. Massnahmen der US-Regierung von Donald Trump haben die Perspektiven chinesischer Unternehmen erfolgreich beschnitten. Die Embargos und andere Lieferbeschränkungen gegen Firmen, die Washington als Bedrohung ansah, haben gewirkt. Diese Massnahmen waren ein schwerer Schlag für Huawei und viele andere chinesische Technologieunternehmen.

Das war ein Weckruf für Präsident Xi und sein Team, denn es wurde deutlich, dass selbst die erfolgreichsten chinesischen Unternehmen anfällig sind, wenn Washington sie ins Visier nimmt. Ihre Lieferketten sind von den USA und ihren Verbündeten abhängig, da China in «Hard Tech»-Sektoren wie der Halbleiterindustrie noch keine führende Stellung hält.

Peking sieht die Rivalität mit den USA als einen «langwierigen Krieg», der noch viele Jahre andauern wird – entsprechend muss China seine politischen Prioritäten ändern, um zu gewinnen.

Der Industriesektor wird wieder gezielt gefördert

Das verarbeitende Gewerbe hat daher in der Gunst der politischen Führung wieder zugelegt. Ein Hauptthema im vergangenen Jahrzehnt war die Aufwertung des Dienstleistungssektors und die Abwertung des Industriesektors in der Wirtschaft. Das ist nun nicht mehr der Fall. Im 14. Fünfjahresplan wurde zum ersten Mal in diesem Jahrhundert die Erhöhung des Anteils des Dienstleistungssektors als Ziel gestrichen. Stattdessen wurde ausdrücklich gefordert, den Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Gesamtwirtschaft zu stabilisieren.

Peking misst der Entwicklung von Spitzentechnologien und der Verringerung der Abhängigkeit von grenzüberschreitenden Lieferketten grosse Bedeutung bei. Sie wurden zu den wichtigsten Prioritäten für 2021 und darüber hinaus erklärt. Die Behörden haben einen Zehnjahres-Aktionsplan für die Grundlagenforschung aufgelegt, und die Regierung hat auf verschiedenen Ebenen Anreize geschaffen, um die Unternehmen zu belohnen, die Abhängigkeiten von ausländischen Technologien abbauen.

Diese Aufgabe kann jedoch nicht nur von staatlichen Unternehmen und öffentlichen Universitäten übernommen werden; Präsident Xi möchte, dass auch der Privatsektor einen Beitrag leistet. In den Augen der Führung soll der Privatsektor «Hard Tech» finanzieren, weil China das Know-how in diesem Sektor dringend braucht.

«Soft Tech» – dazu zählen Bereiche wie E-Commerce, Computerspiele oder Unterhaltung – hingegen hat im privaten Sektor zwar mehr Geld angelockt, dient in den Augen der Parteiführung aber nur als Dekoration.

Wer von Pekings Zielen abweicht, wird bestraft

Mit der Formulierung «Verhinderung einer unkontrollierten Kapitalakkumulation» will Peking privaten Unternehmern vorschreiben, wo sie investieren sollen und wo nicht. Mit anderen Worten: Die regulatorischen Eingriffe sollen nicht dazu dienen, den Privatsektor völlig zu beschneiden. Vielmehr sollen sie den privaten Sektor auf die strategischen Ziele Pekings ausrichten.

Die Unternehmen, die der Regierung helfen, ihre «Hard Tech»-Ziele zu erreichen – wie CATL oder BYD im Bereich Batterietechnologie, SMIC im Halbleitersektor oder Huawei in der 5G-Mobiltechnologie –werden reich belohnt. Sie sind zwar nominell privat, aber ihr Wachstum in ihren angestammten Bereichen gilt als «ordnungsgemäss» und wird gefördert.

Wer jedoch von Pekings Zielen abweicht, wird ausgegrenzt oder bestraft. So machen beispielsweise E-Commerce- und Lebensmittel-Lieferdienste das Leben der Bevölkerung zwar bequemer, tragen in den Augen der Parteiführung aber nicht zur Lösung der dringendsten Probleme Chinas bei.

Die Online-Ausbildungsindustrie war das extremste Beispiel: Sie sammelte Milliarden von Dollar an Investorengeldern ein und gab riesige Summen für Werbung aus. Aus Pekings Sicht war dies jedoch eine enorme Kapitalverschwendung und eindeutig ein Fall von «ungeordneter Expansion».

Unternehmer, die sich offen gegen Pekings politischen Kurs stellten, haben ihre Lektion auf die harte Tour gelernt. Sie mussten sich zurückziehen oder ihre Geschäftsfelder umstellen, um Peking zu gefallen und bei der Lösung von Chinas Problemen zu helfen. Die Parteispitze befürchtet, dass diese Wirtschaftsführer durch ihren Einfluss auf die Medien und ihre Lobbyarbeit die öffentliche Meinung und die Regierungspolitik beeinflussen könnten; deshalb kann sie nicht zulassen, dass die Medien privaten Kapitalinteressen dienen. Das war wahrscheinlich ein Schlüsselfaktor für die jüngste Entscheidung der Cyberspace-Regulierungsbehörde, sich mit 1% an der Twitter-ähnlichen Plattform Weibo und dem Douyin/TikTok-Betreiber ByteDance zu beteiligen und einen Sitz im Verwaltungsrat zu übernehmen.

Die Online-Ausbildungsindustrie erhielt quasi die Todesstrafe, weil sie einige der drängenden strukturellen Probleme Chinas – etwa die sinkende Geburtenrate – noch vergrössert. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass China eine weitere Verschlechterung der demografischen Entwicklung mit einer auf 1,3 gesunkenen Fertilitätsrate vermeidet. Der Übergang zu einer Drei-Kind-Politik ist nur der Anfang, und Peking wird auch die Kosten für die Kindererziehung senken müssen.

Bekämpfung der Ungleichheit als höchste Priorität

Die Ungleichheit ist ein weiteres innenpolitisches Thema, das Präsident Xi im Blick hat. In einer Rede im Januar dieses Jahres betonte er, wie wichtig es sei, die Ungleichheit in der Bevölkerung zu verringern. Er ist der Ansicht, dass die Ungleichheit die Ursache vieler gesellschaftlicher Probleme im Westen (besonders in den USA) ist und eine Gefahr für die langfristige Entwicklung Chinas sowie die Herrschaft der Partei darstellt.

Der Abbau der Ungleichheit war das Hauptziel der Armutsbekämpfung in den letzten drei Jahren. Nun will Xi noch einen Schritt weiter gehen. Seit Anfang dieses Jahres widmet er dem Wohlergehen der Arbeitnehmer besondere Aufmerksamkeit. Bei einer lokalen Inspektionsreise im April erwähnte er die Rechte von Zustellern und Fahrern von Lieferdiensten, da ihre Arbeitgeber in der Regel nicht für ihre Sozialversicherung und andere Leistungen aufkommen.

Vor zwei Wochen leitete Xi eine hochrangige Sitzung der Zentralen Kommission für Finanz- und Wirtschaftsfragen (CFEAC), an der die Spitzenpolitiker erörterten, wie der gemeinsame Wohlstand («Common Prosperity») im Land erreicht werden kann. Die Parteispitzen betonten, dass gemeinsamer Wohlstand für den langfristigen Führungsanspruch der Partei über die Volksrepublik wichtig sei.

Im Communiqué der CFEAC-Sitzung wurde die übliche Linie wiederholt, wonach «einige Leute zuerst reich werden dürfen» und «Pioniere ermutigt werden, durch harte Arbeit, legale Mittel und Unternehmertum reich zu werden». Für viele private Unternehmer war das CFEAC-Treffen jedoch keine gute Nachricht, da aus Sicht der Partei das Thema Verteilung in den Mittelpunkt rückt.

Die privaten Unternehmer sollten sich vor allem Sorgen machen, wenn sie lesen, dass «die Vorschriften und Anpassungen für hohe Einkommen verschärft, illegale Einkünfte ausgemerzt, diejenigen, die legal reich werden, geschützt und die gesunde Entwicklung des Kapitals gefördert werden sollen». Viele chinesische Privatunternehmen wurden zu einer Zeit gegründet, als die Gesetze und Vorschriften schwammig waren, und einige ihrer Aktivitäten fielen in eine Grauzone, um es vorsichtig auszudrücken.

Weitreichende Veränderungen

Das deutet darauf hin, dass diejenigen, die selbst vor langer Zeit nicht ganz legal tätig waren, heute in Gefahr sein können. Mehrere Geschäftsleute, grosse Privatkonzerne und private Aktiengesellschaften – Tencent und Pinduoduo sind zwei Beispiele – haben bereits angekündigt, dass sie spenden und spezielle Fonds zur Förderung des allgemeinen Wohlstands einrichten wollen. Sie können es sich nicht leisten, die «Common Prosperity»-Losung zu ignorieren. Das erinnert an die sogenannte «Dritte Verteilung», die an der CFEAC-Tagung angesprochen wurde und mit der Spenden gemeint sind.

Es ist jedoch naiv zu glauben, dass das Verschenken von Geld die privaten Unternehmer ins «Goldene Zeitalter» zurückversetzen wird. Der Präsident ist entschlossen, die Ungleichheit zu verringern, und die Umsetzung wird konsequent sein. Die Behörden werden das gesamte bürokratische System mobilisieren, um den Auftrag auszuführen, da dieser oberste Priorität hat und es in der ganzen Befehlskette niemand riskieren kann, als träge dazustehen.

In den nächsten Monaten wird es zu Änderungen in den Bereichen Steuern, Sozialversicherungen und Transferleistungen kommen. Innenpolitische Diskussionen über die Erbschaftssteuer, die Vermögenssteuer und Steuern auf Kapitalerträgen haben bereits begonnen. Das könnte sich nachteilig auf Luxusgüter der obersten Preisklasse auswirken, könnte aber gleichzeitig ein Segen für den Gesamtkonsum sein, denn viele der Massnahmen werden Menschen in den niedrigen und mittleren Einkommensschichten zugutekommen.

Um zu sehen, in welche Richtung sich die «Common Prosperity»-Programme richten, verdient die Provinz Zhejiang besondere Aufmerksamkeit. Diese reiche Provinz mit den Grossstädten Hangzhou, Wenzhou und Ningbo gilt als Pilotzone für das Projekt.

Jörg Wuttke

Jörg Wuttke ist Präsident der EU-Handelskammer in China – ein Amt, das er bereits von 2007 bis 2010 sowie von 2014 bis 2017 besetzt hatte. Wuttke ist Chairman der China Task Force des Business and Industry Advisory Committee der OECD (BIAC) sowie Mitglied des Beratergremiums des Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin. Er lebt seit mehr als drei Jahrzehnten in Peking.
Jörg Wuttke ist Präsident der EU-Handelskammer in China – ein Amt, das er bereits von 2007 bis 2010 sowie von 2014 bis 2017 besetzt hatte. Wuttke ist Chairman der China Task Force des Business and Industry Advisory Committee der OECD (BIAC) sowie Mitglied des Beratergremiums des Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin. Er lebt seit mehr als drei Jahrzehnten in Peking.