Meinung

Wenn der Staub sich legt

In der Weltwirtschaft vollzieht sich ein Paradigmenwechsel. Das Umfeld, das die Finanzmärkte in den vergangenen rund drei Jahrzehnten geprägt hat, verändert sich fundamental.

Mark Dittli ✉️
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Paradigmenwechsel ist ein grosser Begriff. Er sollte mit Bedacht verwendet werden. Doch in der Weltwirtschaft findet gegenwärtig eine fundamentale Veränderung des Umfelds statt, die die Bezeichnung verdient: Sie zwingt zu einem Umdenken. Wahrheiten, an die wir uns im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte gewöhnt haben, gelten nicht mehr oder nur noch mit erheblichen Einschränkungen.

Es ist nicht leicht, diesen Wandel in seiner vollen Tragweite zu erfassen. Akute Fragen – Ist die Energiekrise in Europa gebannt? Fällt die Wirtschaft in eine Rezession? – und Schocks lenken von den wahren langfristigen Trends ab. Der Krieg in Europa, der die Schlagzeilen seit mehr als einem Jahr dominiert, ist ein derartiger Schock. Die Covid-Pandemie ebenso.

Es ist normal, dass man diese Schocks als vorübergehende Störungen empfindet, bevor die Normalität wieder einkehrt. Und «normal» ist das Umfeld, das vor den Schocks geherrscht hatte. Man erhofft sich die Rückkehr zur alten Welt.

Das wird nicht geschehen.

Der Prozess der Veränderung – eben: der Paradigmenwechsel – erstreckt sich über Jahre, und er hat schon deutlich vor 2020 begonnen. Er wurde also weder von Covid noch von Russlands Aggression ursächlich ausgelöst. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen. Doch in Grundzügen ist die neue Welt, die sich präsentieren wird, wenn der Staub sich gelegt hat, bereits erkennbar.

Ideologie versus Effizienz

Mehrere Trends summieren sich zu dieser fundamentalen Veränderung des weltwirtschaftlichen Umfelds. Zum Teil sind sie unabhängig voneinander entstanden, zum Teil sind sie eng verwoben, doch im Kern wirken sie alle in die gleiche Richtung: Sie führen zu einem höheren Inflationsdruck und damit zu einem strukturell höheren Zinsniveau.

Die wichtigsten dieser Trends sind, erstens, die Fragmentierung der Weltwirtschaft. Zweitens die Rückkehr der protektionistischen Industriepolitik. Drittens die Dekarbonisierung und viertens die demografische Wende.

Der erste Trend ist in der öffentlichen Diskussion so allgegenwärtig, dass man Gefahr läuft, ihn nicht mehr ernst zu nehmen. Aber seine Tragweite darf nicht unterschätzt werden. Es geht dabei nicht primär um eine Deglobalisierung, sondern um ein Auseinanderdriften und eine Intensivierung der Konfrontation zwischen den beiden grössten Volkswirtschaften der Welt: den USA und China.

Mehr als dreissig Jahre lang sind Amerika und China zusammengewachsen, hat sich die Volksrepublik in das liberale, von Washington geprägte Weltwirtschaftssystem eingefügt. Dieser Prozess hat auf globaler Basis enorme Effizienzfortschritte ermöglicht. Jede noch so unbedeutende Komponente in der Vielzahl der weltweit gehandelten Güter fand ihren günstigsten Hersteller – und dieser sass sehr oft irgendwo zwischen Schanghai und Chengdu. Zwischen 1995 und 2019 ist das Preisniveau der in den westlichen Volkswirtschaften verkauften langlebigen Konsumgüter um mehr als 40% gesunken.

Diese Entwicklung lässt sich nicht wiederholen. Der neue Kalte Krieg zwischen den USA und China ist Tatsache. Sie stehen in einem ideologischen Konflikt, sie entfremden sich immer mehr. Eine Rückkehr zum Dialog werde immer schwieriger, sagt der langjährige China-Beobachter Jörg Wuttke, Präsident der EU-Handelskammer in Peking: «Die Innenpolitik lässt es in beiden Ländern nicht mehr zu. Jede Seite hat ihre eigene Bevölkerung rhetorisch dermassen aufgepeitscht, dass es praktisch unmöglich ist, vom Rücken dieses Tigers abzusteigen.»

Die Konfrontation beschränkt sich nicht auf Washington und Peking: Die Niederlande und Japan etwa kommen nicht umhin, die US-Sanktionen gegen Chinas Halbleiterindustrie mitzutragen. Die Entkopplung findet statt, die Produktion wird verlagert. Wertschöpfungsketten werden rückgebaut: Nicht mehr maximale Effizienz wird im Fokus stehen, sondern Sicherheit und ideologische Kompatibilität.

Nochmals: Das bedeutet nicht zwingend eine Deglobalisierung. Wertschöpfungsketten können nach Indien, Indonesien, Mexiko, Malaysia oder Vietnam verlagert werden. Aber es wird noch Jahre nicht möglich sein, die Effizienz der Produktionscluster in China eins zu eins zu ersetzen.

Der Dirigismus kehrt zurück

Der zweite Trend betrifft die Rückkehr der protektionistischen Industriepolitik. In der «alten» Welt war es normal, dass Entwicklungsländer im Prozess des Aufstiegs ihre heimische Wirtschaft schützten. Die USA taten dies im 19. Jahrhundert ebenso wie Japan, Südkorea und Taiwan in der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts. Mit steigender Prosperität öffneten sie sich und fügten sich ins freie Welthandelssystem ein. Dirigistisch veranlagte Staaten wie Frankreich blieben im Westen die Ausnahme und wurden belächelt.

Doch die USA haben unter Donald Trump und Joe Biden eine historische Wende vollzogen. Trump führte medienwirksame Handelskriege, Biden hat das Thema auf eine neue Dimension gehoben: Auf Basis einer Reihe von Gesetzen wie dem Inflation Reduction Act und dem CHIPS Act werden enorme Subventionssummen aufgewendet, um Produktionskapazitäten in Bereichen wie Automobile, Batterien und erneuerbare Energien in Amerika anzusiedeln.

Eine Veränderung ist auch nach dem nächsten Wahlen von 2024 nicht in Sicht, denn sowohl Demokraten als auch Republikaner haben sich der «America First»-Strategie verschrieben. Die Republikanische Partei von Ronald Reagan oder Bush Senior und Junior, die Amerika als Schutzmacht eines offenen, liberalen Welthandelssystems verstanden, ist tot.

Die EU lässt sich nicht zweimal bitten und wälzt ebenfalls grosse industriepolitische Projekte. Die Folge ist eine weniger effiziente und damit teurere Weltwirtschaft. Lichtblicke sind zwar Freihandelsbestrebungen in Ost- und Südostasien, doch sie vermögen die Abkehr der USA nicht zu kompensieren.

Strukturelle Knappheiten

Der dritte Trend erwächst aus dem Bedürfnis, die Auswirkungen des Klimawandels abzuwenden. Vereinfacht gesagt geht es dabei darum, die Wirtschaft zu dekarbonisieren und zu elektrifizieren. Fossile Brennstoffe sollen als Energiequellen von Erneuerbaren ersetzt werden. Doch dieser Prozess wird viele Jahre in Anspruch nehmen, mit nachteiligen Effekten in der Übergangsphase: Erstens haben die Förderer fossiler Energieträger keine Anreize, in neue Produktionskapazitäten zu investieren. Dadurch bleibt das Angebot tendenziell knapp, während die Nachfrage weiter wächst.

Zweitens benötigt die Elektrifizierung riesige Investitionen und Unmengen an Metallen wie Kupfer, Nickel, Aluminium, Kobalt sowie möglicherweise Uran. Doch auch diese Rohstoffe sind tendenziell knapp, da die Förderindustrie während Jahren keinen Anreiz hatte, in neue Kapazitäten zu investieren.

Selbst im laufenden Jahr liegen die Investitionsbudgets der grossen Rohstoffkonzerne gemäss einer Studie von Bank of America mit weniger als 50 Mrd. $ noch deutlich unter den Werten der Jahre 2011 bis 2014:

Quelle: Bank of America

Der Aufbau einer neuen Energie-Infrastruktur benötigt enorme Kapitalinvestitionen. Dazu kommt, dass viele Staaten angesichts der neuen geopolitischen Realität deutlich mehr in Rüstung investieren müssen – auch das ein Paradigmenwechsel. Wer hätte vor zwei Jahren gedacht, dass Artilleriemunition und Panzer knapp werden könnten?

Der vierte Trend schliesslich, die demografische Wende, wird von Charles Goodhart und Manoj Pradhan in «The Great Demographic Reversal» treffend beschrieben: Eine Reihe von Faktoren – die Babyboom-Generation, die Öffnung Chinas ab 1978, der Mauerfall – stellten in den vergangenen vier Jahrzehnten ein schier unbegrenztes Angebot an Arbeitskräften sicher. Doch mittlerweile haben diese Trends gedreht, was zu chronischem Arbeitskräftemangel führt.

Die verbleibenden Reservoirs an Arbeitskräften finden sich in Afrika und im Nahen Osten, doch für die Ansiedlung von Produktionskapazitäten im grossen Stil sind diese Regionen von zu hoher politischer Unsicherheit geprägt. Und die Migration dieser Arbeitskräfte nach Europa, Ostasien oder die USA ist politisch inopportun.

Umgekehrte Vorzeichen

Entkopplung der Weltwirtschaft, die Rückkehr protektionistischer Industriepolitik, Dekarbonisierung sowie die demografische Wende haben mannigfaltige Auswirkungen und einen gemeinsamen Nenner: Sie verringern die Effizienz des Wirtschaftssystems, sie verknappen das aggregierte Angebot und erhöhen die aggregierte Nachfrage.

Daraus folgen strukturell höhere Preise – eine Umkehr der Entwicklung, die die vergangenen gut drei Jahrzehnte geprägt hat.

Es wird sich dabei freilich nicht um einen linearen Prozess handeln. Wie die inflationären Episoden in den USA in den späten Vierziger- und in den Siebzigerjahren gezeigt haben, folgt auf einen steilen Anstieg der Teuerung in der Regel eine rasche Disinflation, meist begleitet von einer Rezession. Bloss: Wenn sich die strukturellen Faktoren festgesetzt haben, flammt die Inflation im nächsten Aufschwung sofort wieder auf. Sie verhält sich wie ein Feuer, dem vorübergehend der Sauerstoff entzogen wurde.

Hierin liegt der wichtigste Umdenkprozess für alle, die in irgendeiner Form an den Finanzmärkten arbeiten: Die vergangenen vier Jahrzehnte waren von strukturell sinkenden Zinsen geprägt. Inflation war nie ein Thema, mit dem sich Anlegerinnen und Anleger ernsthaft beschäftigen mussten.

Das war das alte Paradigma, ausgelöst von Überfluss im aggregierten Angebot und begleitet – besonders prononciert nach der Finanzkrise von 2008 – von chronischem Mangel in der Nachfrage. Das bedeutete Überschussersparnisse und sinkende Zinsen. Das alte Paradigma war geprägt von Notenbanken, die zunehmend desperat versuchten, die Inflation auf über 1% anzuheben.

Die kommenden Jahre könnten genau vom Gegenteil geprägt sein. Das neue Paradigma besteht aus chronischem Mangel im Angebot, begleitet von steigender Nachfrage. Das bedeutet in der Tendenz: Steigende Preise, Knappheit an Kapital, steigende Zinsen.

Das neue Paradigma könnte also geprägt sein von Notenbanken, die immer wieder – ebenso desperat? – ein Aufflammen der Inflation bekämpfen müssen.

Das ist für Investoren nicht per se ein schlechtes Umfeld. Doch ein Paradigmenwechsel bedeutet, dass Themen und Gesetzmässigkeiten, die im alten Paradigma erfolgreich und gültig waren, in der neuen Welt hinterfragt werden müssen: Hohe Bewertungen gewisser Aktiensegmente und Immobilienmärkte, die von niedrigen Zinsen begünstigt wurden. Private Equity und Private Debt, deren Wachstum primär darauf basierte, dass institutionelle Investoren in der «alternativlosen» Nullzinswelt nach Rendite lechzten. Zentralbanken, die stets dafür sorgten, dass die Finanzmärkte in guter Stimmung blieben.

Wer im alten Paradigma zu den Gewinnern zählte, dürfte im neuen Paradigma zu den Verlierern gehören.

Die neue Welt wird in vielen Belangen grundlegend anders aussehen. Die Weltwirtschaft wird nicht mehr integriert, sondern fragmentiert sein. Die USA werden nicht mehr Garant des offenen Welthandels sein. Der Krieg, in kalter und heisser Form, ist zurück.

Inflation und Zinsen dürften strukturell höher sein. Investoren sollten sich darauf vorbereiten.