Grüne Vorschriften, staatliche Interventionen und höhere Steuern liegen im Trend. Aber das eigentliche Problem ist, dass der Kapitalismus nie wirklich frei arbeiten durfte.
Innovation und Märkte waren nie frei. Das ist die Wahrheit, die ich in den folgenden Zeilen analysieren werde. Staatliche Intervention ist sogar der Kern des Erfolgs der Tech-Giganten aus dem Silicon Valley. Der Kapitalismus war schon immer durch den Staat manipuliert und durfte den Reichtum nicht richtig verteilen.
Doch diese Tatsachen werden nicht offen diskutiert. Stattdessen konzentriert sich die gegenwärtige öffentliche Debatte nur darauf, wie der Kapitalismus übermässig frei war, und auf die Notwendigkeit, das «freie» Marktsystem zu regulieren, zu besteuern oder zu eliminieren.
Es ist höchste Zeit, diese Verwirrung auflösen.
Erstens lässt sich nicht leugnen, dass das, was wir heute «Kapitalismus» nennen, nicht mehr nachhaltig ist. Und tatsächlich muss man kein Marxist sein, um das kapitalistische System in seiner sehr westlichen, neoliberalen Version zu kritisieren. Es ist geradezu zum Cocktailgespräch geworden. Dieser Tage wird der liberale Kapitalismus sowohl aus sozialen als auch aus ökologischen Gründen angegriffen.
In Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung erklären die CEO grosser Konzerne, sie werden nicht mehr an der kollektiven Verantwortungslosigkeit teilnehmen. Sie sprechen von Nachhaltigkeit, Impact, Inklusion, Zero Carbon, Philanthropie. Es klingt jeden Tag wie beim WEF in Davos, einfach ohne den Schnee und die teuren Hotelzimmer.
Ein Teil dieses späten Unternehmensmoralismus ist natürlich bloss Marketing. Und teilweise wird aus der Not eine Tugend gemacht: Gesetze zwingen Unternehmen zu Veränderungen. Die Schweizer Parlamentswahlen am 20. Oktober brachten grünen Parteien eine Rekordzahl von Sitzen. Das Pariser Abkommen wird in neuen EU-Klimagesetzen umgesetzt. Schweizer Banken müssen ihre Governance-, Risikomanagement-, Verkaufstrainings- und IT-Systeme ändern, um ihre Produkte an die revidierten MiFID 2-, UCITS- und AIFM-Richtlinien anzupassen, die zur Durchsetzung nachhaltiger Finanzkriterien geändert wurden.
Es ist evident: Die neuen politischen Farben sind grün und rosa. Thomas Piketty ist bestätigt. Der französische Ökonom hatte 2013 in seinem Werk «Das Kapital im 21. Jahrhundert» erklärt, dass die Einkommensungleichheit in der westlichen Welt seit der Belle Epoque (1889-1914) noch nie so hoch war wie heute. Die Gehälter der Arbeitnehmer stagnieren seit 1975, während die Kapitalrenditen in die Höhe schnellen.
Nun hat Piketty in seinem jüngsten Buch «Capital and Ideology» (2019) nachgelegt, und seine Lösung besteht aus zwei Wörtern: Sozialismus und hohe Besteuerung. Nicht die UdSSR-Version des Sozialismus, sondern eine verbesserte, partizipative Version. Ein Werkzeug zur Dezentralisierung von Macht und Eigentum.
Er befürwortet ein Modell der Unternehmensführung, bei dem die Mitarbeiter 50% der Stimmrechte besitzen und das Unternehmen «mitverwalten». Dieses partizipative Modell bricht mit der alten kapitalistischen «One Share, One Vote»-Regel, auch wenn es die Lehren aus den gescheiterten hyperzentralisierten kommunistischen Regimen zieht.
Aber es ist der steuerliche Aspekt im Werk des Franzosen, der einigen Kommentatoren Angst und Schrecken einflösst. Piketty befürwortet eine sehr progressive Besteuerung von Einkommen und Vermögen, von bis zu 70%-90% für die Reichsten, ergänzt durch eine jährliche Grundsteuer.
Ich würde das Werkzeug der Besteuerung nicht radikal ablehnen. Aber es ist die Lösung der Verzweifelten. Wir wären nicht in der heutigen Lage mit einer derart extremen Ungleichheit, wenn wir tatsächlich freie Märkte eingeführt hätten. Dem Liberalismus wurde es nie erlaubt, seinem natürlichen Lauf zu folgen. Die Ungleichheiten haben sich so stark vergrössert, weil wir Unternehmen nicht scheitern liessen, obwohl sie es verdient gehabt hätten. Wir haben nicht zugelassen, dass Unternehmen ihre eigenen Risiken eingehen. Es ist ein Mythos, dass wir in einem System freier Märkte leben.
Regierungen haben Märkte, Branchen und Unternehmen finanziert und unterstützt, sogar die Techgiganten aus dem Silicon Valley. Innovation in den USA wird zu fast 100% vom Staat finanziert. In Europa glauben wir unwissentlich, dass wir keine Googles und Facebooks haben, weil wir nicht den freien Marktansatz des Silicon Valley haben. Tatsächlich aber wurden die Computer- und Internetrevolutionen mit einer enorme Menge an öffentlichen Investitionen begünstigt, wie die italienisch-amerikanische Ökonomin Mariana Mazzucato feststellte.
Der Suchalgorithmus von Google wurde durch einen Zuschuss der National Science Foundation, einer öffentlichen Einrichtung in den USA, finanziert. Tesla hatte zunächst Schwierigkeiten, Investitionen zu sichern, bis das Unternehmen ein Darlehen in Höhe von 465 Mio. $ vom US-Energieministerium erhielt. Die drei Unternehmen von Elon Musk, Tesla, SolarCity und SpaceX, erhielten gemeinsam satte 5 Mrd. $ an öffentlicher Unterstützung. Die iPhone-Technologien von Apple wurden vom CERN, dem US-Verteidigungsministerium, der National Science Foundation, der CIA, der Stanford University oder von der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) unterstützt.
Letztere investierte Milliarden in die Prototypen, die kommerziellen Technologien wie Microsoft Windows, Videokonferenzen, Google Maps, Linux und der Cloud vorausgingen, wie Mariana Mazzucato in ihrem Buch «The Entrepreneurial State» von 2013 zeigt.
Die Legende, alle diese Innovationen seien das Werk einzigartiger, genialer Unternehmer, ermöglichte es den amerikanischen Technologieriesen, sich ungeniert für eine weitere Deregulierung und niedrige Steuern einzusetzen, was ein zusätzliches Geschenk des Staates war.
Dieser Effekt der staatlichen Intervention in der Privatwirtschaft ist durchaus wünschenswert: die Finanzierung von Grundlagenforschung und Innovation ist von volkswirtschaftlichem Nutzen. Problematisch ist, dass die Unternehmen, die in den Genuss staatlicher Innovationsunterstützung gekommen sind, nun primär darauf ausgerichtet sind, ihre eigenen Aktionäre zu bereichern. Die meisten US-Konzerne im S&P 500 nutzten in den vergangenen zehn Jahren ihre Gewinne, um eigene Aktien zurückzukaufen. Sie haben damit die kurzfristige Rendite für ihre Aktionäre erhöht, anstatt das Geld in Forschung und Entwicklung zu investieren.
Ähnlich erhalten US-Pharmakonzerne pro Jahr 32 Mrd. $ an Innovationsfinanzierung von der US-Regierung, und doch müssen die Steuerzahler immer noch sehr hohe Preise für lebenswichtige Medikamente zahlen. Auch hier agiert die Öffentlichkeit als Frühinvestor in die Forschung, die hochprofitable Medikamente produziert, ohne dabei eine direkte Rendite zu erhalten.
Öffentliche Investitionen, private Gewinne; das ist es, was zu hohen Ungleichheiten führt – und der staatliche Interventionismus ist schuld daran. In freien Märkten finanzieren Unternehmer eigenes Unterfangen mit Hilfe von Privatinvestoren, gehen eigene Risiken ein und ernten dann eigene Gewinne. In einem staatlich unterstützten System stellt die Regierung privaten Unternehmen öffentliche Mittel zur Verfügung, ohne dass die Öffentlichkeit davon profitiert.
Das ist bestenfalls Sozialismus für Unternehmen und für die Reichen. Im schlimmsten Fall ist es ein korrupter Kapitalismus mit versteckten Nebenleistungen für Politiker.
Seit der Finanzkrise von 2008, als Dutzende Banken vom Staat gerettet wurden, schreibe ich über die wahre Natur des «freien Marktkapitalismus», der alles andere als frei ist. Die Doktrin «Too Big To Fail» für die Grossbanken wurde zum Inbegriff dieser Form des Etatismus.
In einem wirklich liberalen System steht es einem Unternehmen frei, grenzenlose Gewinne zu erzielen, und auch grenzenlose Verluste zu erleiden. In der heutigen Realität werden Verluste von Regierungen limitiert und mit Steuergeldern aufgefangen. Es ist keine Überraschung, dass wir solche schockierend grosse Ungleichheiten erleben. Das Scheitern des Finanzsektors wird durch öffentliche Rettungsaktionen belohnt.
Auch der Freihandel ist eine Utopie. Protektionismus war schon immer die Regel, ebenso wie alle Arten von versteckten Handelsbarrieren und merkantilistischen Praktiken. Das System der variablen Wechselkurse war nie wirklich variabel. Die Wechselkurse wurden vom ersten Tag an von den Zentralbanken durch Abwertung und Währungskriege manipuliert. Das System der festen Wechselkurse von vor 1967 sieht im Vergleich dazu fast liberal aus.
Heute erreichen wir Spitzenwerte des öffentlichen Interventionismus mit negativen Zinssätzen, die eine zentrale Kontrolle der Zinsen und Währungen durch die Zentralbanken vorsehen und de facto eine zentrale Verwaltung der Märkte darstellen.
Das mag sogar von Seiten der Politik möglicherweise gut gemeint sein, doch alle diese Interventionen – freie öffentliche Mittel für die Privatwirtschaft, Bankenrettungen, negative Zinsen – haben den gleichen Effekt: Sie verteilen die Vermögen. Und zwar nicht nach unten, sondern nach oben.
Um eine bessere Umverteilung in der Gesellschaft zu erreichen, brauchen wir freie Märkte. Das bedeutet Verluste, Unternehmenspleiten, nicht subventionierte Boomphasen und echte, komplette Rezessionen. Freie Märkte sind ein effizienterer Umverteilungsmechanismus als hohe Steuern: Im Gegensatz zu den Steuern können die Marktakteure reale Verluste nicht umgehen.
Da die Märkte von Gier getrieben werden, erzeugen sie immer Überschwang und Blasen. Das ist normal. Bloss müssen die Märkte frei sein, diese Euphorie zu korrigieren – indem sie einbrechen. In der Baisse wird Reichtum zurückgesetzt, Schulden werden zurückgezahlt oder abgeschrieben, Gier wird abgebaut; das Risiko des Unternehmers und des Spekulanten wird sanktioniert, genau so wie es während des Booms belohnt wurde.
Diese Selbstkorrektur würde eine übermässige und missbräuchliche Bereicherung nicht zulassen. Bloss wird diese Korrektur nicht zugelassen, weil der Staat und die Zentralbanken einschreiten. Ein Finanzmarktteilnehmer der Gegenwart kann fast nie verlieren. Selbst im Casino sind die Regeln für die Gesellschaft gerechter.
Der Kapitalismus des freien Marktes hatte nie die Chance, frei zu agieren und sich selbst zu regulieren. Wir haben die einfache liberale Idee, dass Gewinn mit Verlust einhergeht, nie akzeptiert. Warum hören wir nicht auf, das Spiel zu manipulieren und sehen, was passiert?
Mehr Moral zu predigen, die Steuern zu erhöhen, mehr zu regulieren, während wir die gescheiterten Banken retten und Spekulationen subventionieren, ist ineffizient, politisch unpraktisch und geradezu dumm. Damit wird der Reichtum bloss immer weiter nach oben verteilt, bis zur endgültigen Katastrophe. Also lasst uns wirklich liberal werden und die höllische Interventionsmaschine stoppen.