Meinung

Wirecard und die Kakerlaken-Theorie

An den Finanzmärkten sind Probleme wie Ungeziefer: Sie kommen selten allein. Bekundet ein Unternehmen wie Wirecard einmal Schwierigkeiten, ist das daher oft ein Warnzeichen, dass noch mehr Ungemach droht.

Alexander M. Ineichen
Drucken

English version

Europa hat möglicherweise dieser Tage seinen Enron-Moment erlebt.

Bei Enron waren es 2001 einige Leerverkäufer, die Verdacht geschöpft hatten, dass etwas nicht stimmte. Im Fall von Wirecard kamen verschiedene Faktoren ins Spiel, einschliesslich die kritischen Berichte der «Financial Times», die mehr als ein Jahr lang zu den fragwürdigen Rechnungslegungspraktiken von Wirecard recherchierte.

Wo Rauch ist, ist auch Feuer, lautet ein bekanntes Bonmot. Ohne Feuer auch kein Rauch, ist der Umkehrschluss. An den Finanzmärkten ist das Pendant dazu die Kakerlaken-Theorie: Entdeckt man eine Schabe, ist so gut wie sicher, dass sich im Raum noch weitere verstecken.

Die Kakerlaken-Theorie ist eine entfernt verwandte Variation von Murphy's Law, genauer gesagt von Lubarsky’s Law of Cybernetic Entomology. Sie besagt, dass nie nur ein Fehler («Bug») auftritt, sondern immer mehrere.

Die Kakerlaken-Theorie bezieht sich ebenfalls lose auf das Konzept der Mean Reversion, der Rückkehr zum Mittelwert; oder der Idee, dass Erfolg die Voraussetzungen für Versagen schafft.

Sichtet man eine Kakerlake, ist das demnach im übertragenen Sinn ein Indikator dafür, dass der Trend dreht. Anders gesagt: Ein frühes Anzeichen dafür, dass es zu einer rückläufigen Entwicklung zum Mittelwert kommt.

Die Mean Reversion ist ein eisernes Gesetz der Finanzmärkte:

«Reversion to the mean is the iron rule of the financial markets.» 1
—John C. Bogle (1929-2019), Gründer der Vanguard Group

Eine weitere Verbindung zur Kakerlaken-Theorie lässt sich ferner zu Hyman Minskys Idee ziehen, dass Stabilität unbeständig ist und Instabilität hervorruft. Der Grundzustand der Welt ist demnach kein Gleichgewicht, wie das in der ökonomischen Grundlehre oft angenommen wird.

Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: ein Ungleichgewicht in Form von Instabilität, Chaos und Zerstörung. Dieses wird nicht von rationalen Individuen bestimmt, die Preise auf einen fairen Wert und ins Gleichgewicht bringen, sondern von – positiven wie negativen – Rückkopplungseffekten («Feedback Loops»), die Preise aus der Balance werfen.

In diesem Kontext erinnert uns Hyman Minsky an Folgendes:

«Each state nurtures forces that lead to its own destruction.» 2
—Hyman Minsky (1919-1996), amerikanischer Ökonom

Im Prinzip geht es darum, dass Bäume nicht in den Himmel wachsen. Wird das erste Ungeziefer entdeckt, ist das im anekdotischen Sinn ein Hinweis darauf, dass sich das Wachstum des Baums zu Ende neigt.

In manchen Fällen lässt sich rational nachvollziehen, weshalb der Preis eines Wertpapiers scharf einknickt. Bekannt ist aber auch, dass Märkte übertreiben. Lässt sich ein Kurssturz um 50% fundamental rechtfertigen, kommt es oft vor, dass der Preis sogar um 80 bis 90% abstürzt.

Das eröffnet Chancen für Investoren, die den intrinsischen Wert eines Unternehmens kennen und verstehen, dass der Abschlag nur kurzfristig sein wird.

Warren Buffett rät diesbezüglich allerdings vom sogenannten «Zigarettenstummel-Ansatz» ab, gemäss dem man ein Unternehmen mit katastrophalen langfristigen Perspektiven zu einem spottbilligen Preis kauft. Er vergleicht es mit einem am Boden liegenden Zigarettenstummel, der noch genügend Tabak für einen Zug enthält:

«A cigar butt found on the street that has only one puff left in it may not offer much of a smoke, but the ‹bargain purchase› will make that puff all profit.» 3
—Warren Buffett (*1930), Chairman von Berkshire Hathaway

Nach Ansicht von Buffett ist es deshalb eine einfältige Schnäppchenjagd, einen Zigarettenstummel für lediglich einige wenige Züge vom Boden aufzuheben:

«[T]he original ‹bargain› price probably will not turn out to be such a steal after all. In a difficult business, no sooner is one problem solved than another surfaces - never is there just one cockroach in the kitchen.» 4
—Warren Buffett

Umsichtige Investoren teilen Buffetts Meinung und vermeiden den letzten Zug vom Stummel. Die Kakerlaken-Theorie ist daher ein nützliches Konzept, um über den Einbruch einer Aktie, eines Sektors oder einer ganzen Volkswirtschaft nachzudenken.

Aus dieser Sichtweise könnte sich der Rückschlag - ökonomisch ausgedrückt - nicht als Gelegenheit für ein Schnäppchen herausstellen, sondern reflektieren, dass der Markt scharfsinnig denkt und mit weiteren Kakerlaken rechnet.

Buffetts Ratschlag ist diesbezüglich gewichtig:

«It's far better to buy a company at a fair price than a fair company at a wonderful price.» 5
—Warren Buffett

Wenn der legendäre Wallstreet-Investor Byron Wien über seine Fehler spricht, dann gehört jeweils folgendes Missgeschick dazu: «Die Tragweite eines Problems zu unterschätzen».

Mit Blick auf Wachstumstitel zitiert Wien dabei oft Dennis Sherva, einen Finanzanalysten, der bei der prestigeträchtigen Auszeichnung «All-American Research Team» des «Institutional Investor Magazine» von 1979 bis 1987 sechsmal den ersten Platz belegte:

«The first bad quarter is rarely the last.» 6
—Dennis Sherva (*1942), amerikanischer Finanzanalyst

Für heutige Investoren bedeutet das in der Praxis, dass die Mean Reversion unumstösslich ist.

Sieht also alles bestens aus, sind schlechte Nachrichten oft ein Vorbote von weiteren Schwierigkeiten. Das trifft nicht nur auf Enron und Wirecard zu, sondern hat allgemeine Gültigkeit. Unerfreuliche News treffen in der Regel gehäuft ein. Eine Kakerlake kommt selten allein.

Alexander Ineichen

Alexander Ineichen ist Gründer der Ineichen Research and Management AG, die sich seit 2009 auf Research im Zusammenhang mit Risikomanagement und Nowcasting spezialisiert. Er begann seine Karriere 1988 im Verkauf von derivativen und strukturierten Produkten in der Investmentbank des Schweizerischen Bankvereins und arbeitete bis 2009 im Research der UBS in Zürich und London. Ineichen ist der Autor der beiden Publikationen «In Search of Alpha» (2000) und «The Search for Alpha Continues» (2001). Diese beiden Werke waren die meist gedruckten Researchpublikationen in der dokumentierten Geschichte der UBS. Er hat auch zwei Bücher publiziert, «Absolute Returns» und «Asymmetric Returns»; sein Manifest für ein aktives Risikomanagement. Alexander Ineichen hält die Fachausweise CFA, CAIA und FRM und sitzt im Aufsichtsrat der CAIA Association.
Alexander Ineichen ist Gründer der Ineichen Research and Management AG, die sich seit 2009 auf Research im Zusammenhang mit Risikomanagement und Nowcasting spezialisiert. Er begann seine Karriere 1988 im Verkauf von derivativen und strukturierten Produkten in der Investmentbank des Schweizerischen Bankvereins und arbeitete bis 2009 im Research der UBS in Zürich und London. Ineichen ist der Autor der beiden Publikationen «In Search of Alpha» (2000) und «The Search for Alpha Continues» (2001). Diese beiden Werke waren die meist gedruckten Researchpublikationen in der dokumentierten Geschichte der UBS. Er hat auch zwei Bücher publiziert, «Absolute Returns» und «Asymmetric Returns»; sein Manifest für ein aktives Risikomanagement. Alexander Ineichen hält die Fachausweise CFA, CAIA und FRM und sitzt im Aufsichtsrat der CAIA Association.

1 Rede an der University of Missouri, 22. Oktober 2002.
2 Minsky, Hyman P. (1975) «John Maynard Keynes», New York: Columbia University Press, S. 168.
3 Berkshire Hathaway, 1989 Brief an die Aktionäre, 2. März 1990.
4 Ebd. Was hier als «Kakerlaken-Theorie» bezeichnet wird, ist auch eine häufig genannte Investmentregel von Dennis Gartman, Verfasser des inzwischen eingestellten Researchreports «The Gartman Letter». Er zitierte dabei oft Claudius in Akt 4, Szene 5 von Hamlet, der zu seiner Frau Gertrude sagt: «Wenn Sorgen auftreten, kommen sie nicht als einzelne Spione, sondern in Bataillonen.»
5 Ebd. Charlie Munger’s «Poor Charlie’s Almanack» führt «Munger’s Three Great Lessons of Investing» auf. ‹1. Ein grossartiges Unternehmen zu einem fairen Preis ist besser als ein anständiges Unternehmen zu einem grossartigen Preis. 2. Ein grossartiges Unternehmen zu einem fairen Preis ist besser als ein anständiges Unternehmen zu einem grossartigen Preis.’ 3. Ein grossartiges Unternehmen zu einem fairen Preis ist besser als ein anständiges Unternehmen zu einem grossartigen Preis.› Aus: «Poor Charlie’s Almanack: The Wit and Wisdom of Charles T. Munger», verfasst von Peter D. Kaufman, Expanded Third Edition, 2008, Virginia Beach: The Donning Company Publishers, S. 69.
6 Aus «If Freud were a portfolio manager», von Bryon Wien, in «Classics – An Investor’s Anthology», verfasst von Charles D. Ellis und James R. Vertin, Homewood: Business One Irwin, 1989, S. 755. Erstmals veröffentlicht von Morgan Stanley, 7. Juli 1986.