Meinung

Zu viele Fata Morganas!

Die Finanzmärkte sind weiterhin geprägt von unrealistischen Wunschträumen – obschon Aktieninvestments spürbar an Attraktivität eingebüsst haben. Investoren sollten einige dieser «Fata Morganas» kritisch hinterfragen.

Heinz-Werner Rapp
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Die globalen Kapitalmärkte durchlaufen ein kompliziertes Szenario, das noch immer durch erhebliche Stagflationsrisiken gekennzeichnet ist. Dies erzeugt unklare Verlaufspfade der Realwirtschaft und Widersprüchlichkeit an den Märkten. Deutlich gestiegene Geldmarktzinsen reduzieren sehr klar die relative Attraktivität von Aktieninvestments. Zugleich zirkulieren an den Märkten weiter unrealistische Wunschträume. Investoren sollten einige dieser «Fata Morganas» kritisch hinterfragen.

Fata Morgana 1: Der Traum von «Goldilocks»

Bis vor kurzem noch haben die globalen Kapitalmärkte ein relativ sorgloses Szenario gehandelt: Die globale Inflation würde stetig zurückgehen, grosse Notenbanken wie das Fed in den USA könnten ihren restriktiven Kurs bald wieder lockern und zugleich würde die globale Wirtschaft ohne echte Rezession oder ernsthafte Gewinneinbrüche davonkommen. Dieses erfreuliche Bild, oftmals auch als «Soft Landing» oder «Goldilocks-Szenario» tituliert, ist wohl zu schön, um wahr zu sein. Entsprechend haben auch die Kapitalmärkte diese seit Ende 2022 kursierende Wunschvorstellung in den letzten Wochen wieder ausgepreist.

Speziell die Hoffnung, das Fed könne schon Mitte 2023 mit Zinssenkungen beginnen, erwies sich als trügerische Fata Morgana. Denn: Inzwischen zeichnet sich in den USA eine Fortsetzung des Straffungskurses ab, der die Geldmarktzinsen deutlich über 5% führen wird.

Dahinter steht die Erkenntnis, dass nach einem so starken Inflationsschub wie 2021/2022 nicht einfach zur Tagesordnung übergegangen werden kann. Speziell in der US-Wirtschaft zeigt sich, dass die massiven Stützungspakete während der Pandemie einen Zustand der monetären Überhitzung – und damit eine Verfestigung inflationärer Kräfte – ausgelöst haben. Trotz deutlich gesunkener Energiepreise resultiert daraus hartnäckige Persistenz – oder sogar ein weiterer Anstieg – bestimmter Inflationstreiber.

Quelle: FERI

Derartige Konstellationen sind weder unbekannt noch sonderlich überraschend. Im Gegenteil zeigen frühere hochinflationäre Episoden, wie etwa die Siebzigerjahre, sehr ähnliche Verlaufsmuster. Da sich heute aber nur noch wenige Investoren an diese Zeit erinnern, konnte sich an den Kapitalmärkten schnell das Narrativ von «stetig zurückgehender Inflation» entwickeln. Das war Fata Morgana Nr. 1.

Fata Morgana 2: «Aktien sind wieder preiswert»

Durch die Neukalibrierung der US-Geldpolitik seit Anfang Februar hat sich das komplizierte Gefüge an den Kapitalmärkten deutlich verschoben: Mit einer Rendite von über 5% sind Cash und kurzlaufende US-Anleihen plötzlich wieder eine echte Konkurrenz für die volatilen Aktien- und Bondmärkte. Die relative Bewertung von Aktien, Anleihen und Cash hat sich dadurch, speziell im Vergleich zu den zurückliegenden Nullzins-Jahren, massiv verändert.

Bewertungsfaktoren wie die sogenannte «Equity Risk Premium» (ERP, Verhältnis von Gewinnrendite bei Aktien und risikoloser Alternativrendite), gewinnen schlagartig wieder an Bedeutung. Speziell die ERP hat sich durch den erneuten Zinsanstieg der letzten Wochen deutlich reduziert, die bewertungstechnische Attraktivität von Aktien relativ zum Bond- oder Geldmarkt hat sich also signifikant verschlechtert. Dieser Punkt springt besonders ins Auge, wenn man die Gewinnrendite des Aktienmarktes mit dem aktuellen risikolosen Zins vergleicht (6-Monats-US-Geldmarktzins rund 5 %).

Quelle: FERI

Offensichtlich sind Aktien – trotz heftigem Kursverfall im Vorjahr – derzeit nicht preiswert, sondern haben sich in kurzer Zeit bereits wieder erheblich verteuert. Und dies liegt weniger an sinkenden Unternehmensgewinnen, sondern primär an der schlechteren Bewertungsrelation im Vergleich zum «risikolosen Zins». Diese Grundaussage, dargestellt am Beispiel des US-Aktienmarktes, gilt jeweils auf einer hoch aggregierten Gesamtmarkt-Ebene.

Noch stärker verändern sich die relativen Bewertungskalküle für die besonders zinssensitiven Bereiche der Aktien- und Bondmärkte. Diese sogenannten «Long Duration»-Segmente umfassen bei Aktien speziell den Bereich der Wachstumswerte (Nasdaq, etc.); bei Anleihen sind per Definition Titel mit langen Laufzeiten (>5 Jahre) betroffen. Dass Aktien nach dem deutlichen Absturz des Vorjahres nun endlich wieder preiswert sein sollen, ist somit Fata Morgana Nr. 2.

Fata Morgana 3: Das «Buy the Dip»-Mantra

Vieles am aktuellen Aktienmarktgeschehen erweckt jedoch den Eindruck, als ob die rapide Verschlechterung wichtiger Bewertungsrelationen noch nicht überall verstanden wurde. Stattdessen konzentrieren sich «Schnäppchenjäger» darauf, scheinbar preiswert gewordene Titel «günstig» einzusammeln – speziell in den hochriskanten Bereichen der Aktienmärkte.

Dabei gilt erneut das Mantra vom «Buy the Dip», das vor allem unerfahrene Neo-Investoren zu oftmals hochspekulativen Engagements in den Grauzonen der Aktienmärkte verleitet. Als preiswert gilt dabei alles, was in den zurückliegenden Monaten kräftig gefallen ist. Denn: Nach Kursverlusten von teilweise 70-80% im Vorjahr «müssen» viele Titel gemäss dieser Logik einfach wieder preiswert sein.

Die Marktphase von Dezember 2022 bis Ende Januar 2023 war besonders stark von hektischer «Buy the Dip»-Mentalität geprägt, wobei das grössere Bild (hartnäckige Inflation, resolutes Fed-Umfeld) oftmals ausgeblendet oder negiert wurde. Aggressive Anlagekonzepte, wie etwa der ARK Innovation Fund der Investorin Cathie Wood, stiegen allein im Januar rund 40%, was die «Buy the Dip»-These für viele Investoren scheinbar klar belegte. Erneute Kursverluste seitdem zeigen jedoch klar, dass hier vor allem Fata Morgana Nr. 3 am Werk war.

Quelle: FERI

Fata Morgana 4: «Der Markt als Spiel»

Vieles am Marktgeschehen zum Jahresbeginn weckt Erinnerungen an die Zeit der Pandemie. Wie schon in der hitzigen Marktphase 2020/21 sind «Meme Stocks», Aktien oftmals zweifelhafter Qualität mit starker Befeuerung durch Online-Foren und soziale Medien, erneut im Fokus bestimmter Marktaktivitäten. Und wie schon 2020/21 greifen viele Neo-Investoren bevorzugt zu hochriskanten Umsetzungsvarianten. Besonders beliebt sind konzertierte Käufe an den Optionsmärkten, die auf einen sogenannten «Gamma Squeeze» abzielen: Durch massiven Kauf von Call-Optionen wird starker Aufwärtsdruck auf die Aktienmärkte ausgeübt; Teilnehmer können dann mit grosser Hebelwirkung gewinnen – oder aber ihren Einsatz komplett verlieren.

Der letzte Schrei ist derzeit der Erwerb extrem kurzlaufender Kaufoptionen, sogenannter 0DTE (Zero Days to Expiration). Hierbei handelt es sich um Instrumente für hochspekulatives Daytrading, die oftmals an das Prinzip Kettenbrief erinnern. Die Volumina derartiger 0DTE-Optionsgeschäfte, und generell das Handelsvolumen am Optionsmarkt, sind in den USA zuletzt massiv angestiegen.

Quelle: FERI

Ein deutlicher Anstieg spekulativer Aktivitäten ist jedoch schon seit den Corona-Lockdowns 2020/21 erkennbar. Offensichtlich war die Kombination aus staatlich verordneter Freizeit und üppigen staatlichen Schecks für viele Neo-Investoren ein starker Anreiz, um erstmals an den Aktien- und Optionsmärkten «zu spielen». Sowohl der spekulative Hype um Meme Stocks als auch der aggressive Einsatz hochgradig gehebelter Instrumente deuten auf eine zunehmende «Gamification» der Aktienmärkte, also eine faktische Gleichsetzung von Finanzinvestments mit einem Computerspiel oder einem Online-Wettbüro.

Vieles an dieser «spielerischen» Investmentwelt hat mit dem Zustrom jüngerer Marktteilnehmer und der Ausbreitung digitaler Handelsplattformen zu tun. Wenn selbst komplexe Optionsgeschäfte mit wenigen Klicks am Laptop vom heimischen Sofa aus erledigt werden können, geht zwangsläufig das Verständnis für die Komplexität realer Kapitalmärkte verloren. Dennoch sollte immer klar sein: Kapitalmärkte sind kein Spiel. Leichtsinnige Akteure werden über kurz oder lang bestraft. Hierin liegt, vermutlich für sehr viele Neo-Investoren, die Tragik von Fata Morgana Nr. 4.

Fazit für Investoren: Nicht übermütig werden

Das aktuelle Bild an den Kapitalmärkten ist nicht leicht zu interpretieren. Kurzfristig gibt es gegenläufige Entwicklungen, die das Szenario verkomplizieren. So senden robuste Konjunkturdaten in den USA und Europa sowie die konjunkturelle Belebung in China klare Signale in Richtung höherer Marktzinsen. Dieser Trend wird unterstützt durch rigide Inflation in vielen Bereichen. Dadurch verschlechtern sich sowohl das Liquiditätsumfeld als auch die Bewertungslogik für Aktien und andere Risikoaktiva. Gleichzeitig impliziert ein anhaltend harter Kurs des Fed aber auch ein mögliches «Overtightening» sowie zunehmende Risiken für eine nachfolgende US-Rezession, was im Verlauf wieder klar zinsdämpfend wirken würde.

Bei den Unternehmensgewinnen ist ebenfalls noch mit negativen Überraschungen zu rechnen, speziell in den USA. Hinzu kommt, dass viele Marktteilnehmer sich vermehrt von nebulösen Fata Morganas statt von fundierten Einschätzungen leiten lassen. All dies spricht noch nicht wirklich für ein gesundes Marktumfeld.

Ähnlich widersprüchlich erscheinen auch die grundlegenden Markttrends. Der globale Zinspfad scheint vorerst weiter aufwärts gerichtet. Aktienindizes wie der S&P 500 sind zuletzt wieder auf kritische Trendmarken zurückgefallen. Obwohl die Marktbreite merklich gestiegen ist, wecken viele Märkte noch Zweifel an einer nachhaltig positiven Trendwende.

Vor diesem Hintergrund sollten Investoren vorerst nicht zu offensiv agieren und sich auf Sektoren mit ausgeprägter relativer Trendstärke konzentrieren. Bei einem risikolosen Zins von rund 5% (zumindest in den USA) ist eine abwartende Portfolioausrichtung temporär gut zu ertragen.

Heinz-Werner Rapp

Heinz-Werner Rapp ist Vorstand und CIO beim unabhängigen Investmenthaus Feri mit Standorten in Deutschland, Luxemburg, Österreich und der Schweiz, wo er die Anlagestrategie und sämtliche Investmentaktivitäten verantwortet. Rapp beschäftigt sich seit Jahren mit neuartigen Kapitalmarktmodellen und hat zuletzt die Grundlagen der «Cognitive Finance»-Theorie entwickelt. 2016 gründete er das Feri Cognitive Finance Institute als strategisches Forschungszentrum und kreative Denkfabrik der Feri-Gruppe. Seine aktuellen Interessen- und Analyseschwerpunkte sind Komplexitätstheorie, progressive Trends sowie systemische Risiken als Folge weltweit exzessiver Notenbankpolitik. Rapp hat an der Universität Mannheim Wirtschafts- und Rechtswissenschaften studiert und 1994 dort über psychologisch geprägtes Anlegerverhalten doktoriert.
Heinz-Werner Rapp ist Vorstand und CIO beim unabhängigen Investmenthaus Feri mit Standorten in Deutschland, Luxemburg, Österreich und der Schweiz, wo er die Anlagestrategie und sämtliche Investmentaktivitäten verantwortet. Rapp beschäftigt sich seit Jahren mit neuartigen Kapitalmarktmodellen und hat zuletzt die Grundlagen der «Cognitive Finance»-Theorie entwickelt. 2016 gründete er das Feri Cognitive Finance Institute als strategisches Forschungszentrum und kreative Denkfabrik der Feri-Gruppe. Seine aktuellen Interessen- und Analyseschwerpunkte sind Komplexitätstheorie, progressive Trends sowie systemische Risiken als Folge weltweit exzessiver Notenbankpolitik. Rapp hat an der Universität Mannheim Wirtschafts- und Rechtswissenschaften studiert und 1994 dort über psychologisch geprägtes Anlegerverhalten doktoriert.