Meinung

Zuerst Crash, dann Boom

Die Selbstgefälligkeit an den Finanzmärkten ist der Sorge gewichen, dass die US-Notenbank einen harten Abschwung provozieren muss, um die Inflation zu besiegen.

Dylan Grice
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Die Selbstgefälligkeit an den Finanzmärkten in Bezug auf die aktuelle Inflation und die Inflationserwartungen bleibt ungelöst. Die Zentralbanker müssen derzeit von Politikern und der Presse viel Spott einstecken, weil sie gedacht hatten, dass die pandemiebedingte Inflation nur vorübergehend sein würde.

Ironischerweise sagen jedoch die langfristigen, marktbasierten Inflationserwartungen genau das weiterhin voraus: nämlich, dass sich die Inflationsraten über die kommenden Jahre deutlich zurückbilden werden. Wir müssen feststellen, dass die langfristigen Inflationserwartungen in den vergangenen Monaten alles in allem betrachtet recht gut verankert geblieben sind.

Wir würden deshalb heute die These aufstellen, dass die Inflation nicht in diesem, sondern erst im nächsten Zyklus ein echtes, hartnäckiges Problem darstellen wird. Wenn die langfristigen Inflationserwartungen in den vergangenen Monaten gut verankert bleiben konnten, als die Inflation auf den höchsten Wert seit vierzig Jahren stieg, bezweifeln wir, dass sie sich in den kommenden Monaten plötzlich doch noch aus ihrer Verankerung reissen werden – zumal Basiseffekte und eine schwächelnde Wirtschaft sie allmählich wieder nach unten drücken werden.

Schmerzhafter Abschwung

Die Selbstgefälligkeit an den breiteren Finanzmärkten, die gegen Ende 2021 in fast vollkommener Sorglosigkeit kulminiert hatte, ist dagegen inzwischen weitgehend einer wachsenden Besorgnis darüber gewichen, wie sehr der kommende Abschwung schmerzen wird.

Wie wir in diesem Beitrag erläutern werden, vermuten wir, dass der Schmerz sehr gross sein wird. Die Party war rauschend, deshalb wird der Kater heftig sein. Deshalb glauben wir, dass es zu früh ist, um bereits jetzt wieder aggressiv zu kaufen, auch wenn in einigen Bereichen statistisch gesehen wieder günstige Anlagen zu finden sind.

Zunächst gehen wir im Folgenden die Bereiche durch, die wir Ende 2021 als Beispiel für den unersättlichen Risikoappetit des Marktes hervorgehoben hatten, die aber heute bereits ein deutlich vorsichtigeres Signal aussenden. Wir werden erläutern, warum wir die jüngste, rasche und spektakuläre Reaktion des US-Immobilienmarktes auf höhere Hypothekarzinsen als potenziell bedrohliche Metapher für die übrigen Vermögenswerte betrachten. Abschliessend wagen wir einen Blick über die bevorstehende Konjunkturabschwächung hinaus, um Ideen zu liefern, wie die nächste Erholung aussehen könnte.

Der US-Immobilienmarkt als Metapher

Der beste Ort, um billige Konvexität zu kaufen, war im vergangenen Jahr der US-Hypothekenmarkt, wo Agency-Anleihen – also verbriefte Hypothekarpapiere von Fannie Mae oder Freddie Mac – zu rekordtiefen Risikoaufschlägen (Spreads) auf Treasuries gehandelt wurden.

Zur Erinnerung: Hypothekarkreditnehmer besitzen implizit eine Call-Option auf die Refinanzierung ihres Kredits, die sie ausüben könnten, falls die Zinssätze fallen – was bedeutet, dass die Inhaber von Agency-Anleihen eine Short-Position auf diese Option haben, die in den Anleihenkurs «eingebettet» ist.

Als Folge davon sind Agency-Anleihen «negativ konvex»: Wenn die Zinsen steigen, fallen die Kurse von Agency-Anleihen; und wenn die Zinsen fallen, steigen die Kurse von Agency-Anleihen ein wenig, allerdings viel weniger stark, bevor sie dann schliesslich fallen werden.

Wie wir im November letzten Jahres gezeigt haben, konnten Anleger durch Leerverkäufe von Agency-Anleihen gegenüber Staatsanleihen sehr günstig in diese Konvexität einsteigen. Dies beginnt sich nun auszuzahlen. Die nachfolgende Grafik zeigt, dass sich der Spread zwischen Agency-Anleihen und Staatsanleihen angesichts der aggressiveren geldpolitischen Straffungspläne der US-Notenbank erheblich ausgeweitet hat.

Ironischerweise ist diese Ausweitung bei den Agencies genau zu dem Zeitpunkt eingetreten, als der Refinanzierungsboom ins Stocken geriet, wodurch die Option, die die Inhaber von Agencies «short» sind, weit weniger wert ist. Wie das obere Feld in der folgenden Grafik zeigt, ist der primäre Festhypothekenzins in den USA auf etwa 5,5 % gestiegen, so dass einigen Schätzungen zufolge bis zu 95% des derzeitigen Bestands an Wohnhypotheken in den USA «aus dem Geld» sind.

Das untere Feld zeigt, dass die vierteljährliche Veränderung der Hypothekenzinsen die grösste seit über drei Jahrzehnten ist.

Die nächste Grafik verdeutlicht, wie eine Verknappung der Geldpolitik eine direkte Wirkung auf die Realwirtschaft ausübt. Der Anstieg der Hypothekarzinsen hat dazu geführt, dass die Erschwinglichkeit von Wohneigentum in den USA auf ein Niveau eingebrochen ist, das seit 2007 nicht mehr erreicht wurde – und das, obwohl die Hypothekarzinsen im Wesentlichen «nur» wieder auf das Niveau von vor einigen Jahren zurückgekehrt sind. Die Immobilienpreise sind in den letzten Jahren so stark gestiegen, dass eine Anzahlung kaum noch möglich ist:

Wir betrachten diese markante Entwicklung an den US-Hypothekenmärkten als eine Metapher für das breitere Universum von Vermögenswerten, die in der Regel a) fremdfinanziert sind und b) unter Verwendung eines Gegenwartswert-Modells (Net Present Value, NPV) zukünftiger Cashflows bewertet werden, das mit Diskontsätzen arbeitet.

Die obenstehende Grafik zeigt nicht nur, wie ausserordentlich stimulierend die laufend sinkenden Zinsen nach 2010 waren, um Vermögenswerte erschwinglicher zu machen. Sie zeigt auch, wie Bewertungen von Vermögenswerten, die dermassen weit getrieben wurden, dass sie bei niedrigen Zinssätzen kaum noch erschwinglich sind, bei höheren Zinssätzen geradezu unhaltbar werden.

Eine gewisse Parallele sehen wir zur Unternehmenswelt, wo die Zahlungsausfälle 2021 in den USA erstaunlicherweise bei null lagen:

Anekdotisch, aber aus unseres Erachtens verlässlichen Quellen, hören wir derzeit, dass Konkursanwälte in den USA noch nie so viel zu tun hatten wie heute und dass in Erwartung arbeitsreicher Zeiten gegenwärtig eine Einstellungsoffensive im Gange ist.

Wir können nicht umhin, uns zu fragen: Wenn die Bewertung von Immobilien bei höheren Zinsen bereits in Schwierigkeiten gerät, warum dann nicht auch die Bewertung von Unternehmensanleihen? Waren sie in den Jahren ultraniedriger Zinsen nicht beide in ähnlicher Weise überteuert?

Einer der Bereiche, auf die wir in den letzten Monaten hingewiesen haben, ist die Neigung der Kreditkurve, die während des vergangenen Zyklus recht steil war und eine Selbstgefälligkeit hinsichtlich der kurzfristigen Aussichten widerspiegelt. Die Struktur der Kreditkurve hat sich im Verlauf der vergangenen Monate jedoch bereits entscheidend geändert, und die an den Terminmärkten erwarteten Kreditverluste sind deutlich gestiegen.

Der Elefant im Raum

Offensichtlich weicht die Selbstzufriedenheit, die wir Ende letzten Jahres beobachten konnten, nun einer wachsenden Besorgnis darüber, was als nächstes kommt. Die Terminmärkte für die Fed Fund Futures teilen diese Besorgnis; sie rechnen bereits ab 2023 mit keinen weiteren Zinserhöhungen der US-Notenbank mehr.

In einem normalen Zyklus würden die Märkte wohl bald mit dem Ratespiel beginnen, wann das Fed angesichts der kommenden Abkühlung wieder beginnen wird, die Leitzinsen zu senken. Doch heute leben wir nicht in normalen Zeiten. Die Inflation befindet sich auf dem höchsten Niveau seit mehr als vier Jahrzehnten, und es ist nicht klar, wie viel Nachfragezerstörung erforderlich sein wird, um sie wieder auf den historischen Durchschnitt zu senken.

Wird die kommende Konjunkturabschwächung oder Rezession ausreichen, um die Inflation auf die historischen Durchschnittsraten zurückzuführen und zu beweisen, dass das Fed doch Recht hatte und die pandemiebedingte Inflation am Ende doch nur vorübergehend war? Wir denken: ja, wahrscheinlich. Die schwache Nachfrage einer sich verlangsamenden Wirtschaft in Verbindung mit den sich umkehrenden Basiseffekten dürfte dazu führen, dass die Inflation in den kommenden Monaten auf ein etwas weniger extremes Niveau zurückgeht.

Aber wird dies früh genug geschehen, damit das Fed schon bald wieder in den Lockerungsmodus übergehen kann? Wir fürchten nicht. Wir vermuten, dass es zunächst ein Marktereignis – einen Crash – geben muss, bevor das Fed vom derzeitigen Pfad abweichen und wieder eine lockerere Haltung einnehmen kann. Für Investoren bleibt damit unmittelbar die entscheidende Frage, wie heftig der kommende Abschwung wohl ausfallen wird. Auf diesen müssen sie sich vorbereiten.

Die zweite Frage lautet: Was kommt danach? Wenn die kommende Abschwächung die Inflation in den USA nicht auf frühere Rezessionstiefs um 1% zurückgehen lässt, werden die Zentralbanken erneut vor dem Dilemma von Falke und Taube stehen: Werden sie Falken sein und die Zinsen rasch wieder anheben, um eine unannehmbar hohe Inflation gleich zu Beginn des neuen Zyklus zu unterdrücken und die aufkeimende Erholung zu ersticken, bevor sie überhaupt in Schwung kommen kann?

Oder werden sie Tauben sein und im nächsten Zyklus eine höhere Inflation tolerieren, damit sich die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt erholen können, mit der Begründung, dass «das Heilmittel schlimmer wäre als die Krankheit»?

Sollten sie sich für die Rolle des Falken entscheiden, stünde den Aktienmärkten in den kommenden Jahren ein langer, säkularer Bärenmarkt bevor. Sollten sich die Zentralbanken im nächsten Zyklus wiederum als Tauben erweisen, würde das einen neuen, säkularen Boom für Aktien bedeuten.

Wir vermuten, dass sich die Zentralbanken am Ende für die Rolle der Tauben entscheiden werden – was für Risikoanlagen wie Aktien bedeutet: Zuerst droht ein Crash, dann folgt wieder ein Boom.

Dylan Grice’s Popular Delusions, ein zweimal monatlich erscheinender Investment Report, der Anlageideen aus den Bereichen Makro, Sektoren und Einzeltitel enthält, kann über www.calderwoodcapital.com abonniert werden.

Dylan Grice

Dylan Grice ist Mitgründer von Calderwood Capital, einer auf Portfoliokonstruktion und alternative Anlagen spezialisierten Investmentgesellschaft. Zuvor war Grice Head of Liquid Investments bei Calibrium, einem Family Office mit Sitz in Zürich. Bevor er 2014 zu Calibrium kam, war Grice Teil des Global Strategy Teams von Société Générale und belegte 2011 und 2012 in der Extel Survey of Institutional Investors Opinion als Einzelperson den ersten Platz. Grice begann seine Karriere als Ökonom bei Dresdner Kleinwort Wasserstein. Er ist Absolvent der Strathclyde University und der London School of Economics.
Dylan Grice ist Mitgründer von Calderwood Capital, einer auf Portfoliokonstruktion und alternative Anlagen spezialisierten Investmentgesellschaft. Zuvor war Grice Head of Liquid Investments bei Calibrium, einem Family Office mit Sitz in Zürich. Bevor er 2014 zu Calibrium kam, war Grice Teil des Global Strategy Teams von Société Générale und belegte 2011 und 2012 in der Extel Survey of Institutional Investors Opinion als Einzelperson den ersten Platz. Grice begann seine Karriere als Ökonom bei Dresdner Kleinwort Wasserstein. Er ist Absolvent der Strathclyde University und der London School of Economics.