Mit dem September beginnt das letzte Drittel eines turbulenten Jahres an den Finanzmärkten. Zeit für eine umfassende Bestandesaufnahme.
«In den Siebzigerjahren gab es mehrere halbherzige Versuche, die Inflation in den Griff zu bekommen. Doch man wollte die Geldpolitik nicht zu sehr straffen, aus Angst vor steigender Arbeitslosigkeit. So ging es ein Jahrzehnt lang, und am Ende hatten wir mehr Inflation und mehr Arbeitslosigkeit.»
Paul Volcker, ehem. Vorsitzender der US-Notenbank (1927–2019)
Die kalte Dusche hat gewirkt. Im Nachgang der Rede von Fed-Chef Jay Powell am Notenbankertreffen in Jackson Hole vor einer Woche – in der er eine ganze Reihe verbaler Reminiszenzen an Paul Volcker fallen liess – sind die Aktienkurse gesunken, während der Dollar und die Zinsen an den Bondmärkten gestiegen sind.
Die Finanzierungsbedingungen in der US-Wirtschaft haben sich damit wieder verschlechtert, wie der Anstieg des Goldman Sachs Financial Conditions Index zeigt:
Das ist es genau, was die Fed-Verantwortlichen wollten. Mehrere Mitglieder des Fed-Offenmarktausschusses hämmerten in den vergangenen Tagen in öffentlichen Reden die Nachricht für die Teilnehmer an den Finanzmärkten ein: Zur Bekämpfung der Inflation werden die Zinsen höher steigen und länger dort bleiben müssen.
Higher for longer, heisst die Devise. Den Hoffnungen auf einen baldigen Pivot, eine geldpolitische Kehrtwende, erteilten die Fed-Verantwortlichen eine klare Absage.
Aktuell rechnen die Terminmärkte mit einer Wahrscheinlichkeit von über 70%, dass das Fed an seiner nächsten Sitzung vom 21. September den Leitzins um weitere 75 Basispunkte anheben wird.
Für ein Beben im Technologiesektor sorgte diese Woche zudem der Entscheid der Biden-Regierung, die Ausfuhr bestimmter Hochleistungs-Prozessoren nach China zu beschränken – was Branchengrössen wie Nvidia schwer in Mitleidenschaft zog.
In China derweil, wo der Start des 20. Nationalen Kongresses der Kommunistischen Partei auf den 16. Oktober angesetzt wurde, sind keine Anzeichen einer Lockerung der für die Wirtschaft desaströsen Zero-Covid-Politik zu sehen: Die Metropole Chengdu, Hauptstadt der Provinz Sichuan, geht in den Lockdown.
Mit dem September beginnt das letzte Drittel eines turbulenten Jahres an den Finanzmärkten. Wir widmen das dieswöchige «Big Picture» deshalb einer Bestandesaufnahme und werfen einen Blick auf die Grosswetterlage.
Zunächst ein Rückblick.
Um einen Kollaps der Wirtschaft während der Lockdown-Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-Pandemie zu verhindern, haben Staaten und Notenbanken weltweit eine in Friedenszeiten präzedenzlos expansive Geld- und Fiskalpolitik betrieben.
Stellvertretend für den globalen Stimulus hier die jährliche Veränderung der breiten Geldmenge M2 in den USA; in der Spitze im Jahr 2021 weitete sie sich um mehr als 27% aus – ein Wert, der in den vergangenen 70 Jahren nie auch nur annähernd erreicht wurde:
Augenfällig auch der Unterschied zur Geldpolitik nach der Finanzkrise von 2008 (in der Grafik rot markiert): Damals gelangte die Quantitative-Easing-Politik (QE) des Fed kaum in die reale Wirtschaft. 2020/21 jedoch wurde die Geldpolitik durch einen enormen Fiskalstimulus der Regierungen Trump und Biden vervielfältigt – was die breite Geldmenge anschwellen liess.
Dieser Überstimulus liess die aggregierte Güternachfrage in der Wirtschaft weit über den vor der Pandemie herrschenden Trend (rot) explodieren:
Die Folge kennen wir: Steigende Preise und Inflationsraten, die auf den höchsten Stand seit mehr als 40 Jahren gestiegen sind.
Die Zentralbanken haben den Inflationsdruck sträflich lange unterschätzt und ihn als bloss temporäres Phänomen bezeichnet. Das Fed schwenkte erst in diesem Jahr um und begann im März, die Leitzinsen zu erhöhen. Die Europäische Zentralbank wartete sogar bis Juli, bis sie sich zur ersten Zinserhöhung durchringen konnte.
Wie weit die Zentralbanken immer noch im Rückstand sind, zeigt sich in der riesigen Diskrepanz zwischen Inflationsrate und Leitzinsen in den USA...
...und im Euroraum:
Für die Zentralbanken handelt es sich längst nicht mehr bloss um geldpolitische Fragen, sondern es geht um die Wiederherstellung ihrer Glaubwürdigkeit. Deshalb haben sie ihre Rhetorik während und nach dem Meeting von Jackson Hole nochmals markant verschärft und stellen eine weitere deutliche Straffung der Geldpolitik in Aussicht.
Die Drosselung der Geldpolitik ist, mit wenigen Ausnahmen wie China, ein weltweites Phänomen. Mehr als 80% aller Zentralbanken erhöhen gegenwärtig die Zinsen – ein Rekord:
Dieses Bremsmanöver zeigt Wirkung: Seit Anfang 2022 ist die breiteste verfügbare Definition der globalen Geldmenge um rund 5 Bio. $ geschrumpft:
Der Liquiditätsentzug im globalen Finanzsystem wird sich ab September beschleunigen, wenn das Fed den angekündigten Plan umsetzt, seine Bilanz um monatlich 95 Mrd. $ zu schrumpfen:
Verstärkt wird der globale Liquiditätsentzug durch das Erstarken des Dollars: Der Greenback hat auf handelsgewichteter Basis den höchsten Wert seit mehr als 20 Jahren erreicht, was weltweit Unternehmen und Staaten, die sich in Dollar verschuldet haben, in Bedrängnis bringt.
Als Reaktion auf den Inflationsanstieg und in Antizipation der geldpolitischen Drosselung sind die Renditen an den Bondmärkten seit Beginn des Jahres signifikant gestiegen, sowohl am langen Ende der Zinskurve...
...wie auch am kurzen Ende:
Dieser Zinsanstieg wiederum hat an den Aktienmärkten, deren Bewertung Ende 2021 den höchsten Stand seit 1999 erreicht hatte, eine Bewertungskorrektur provoziert:
Soweit zum Rückblick. Betrachten wir nun die Gegenwart.
Die Konjunktur kühlt sich auf globaler Basis deutlich ab. Der von Bloomberg erhobene Global GDP Tracker steht an der Schwelle zur Kontraktion:
Das ist durchaus im Sinne der Zentralbanken: Mit der Drosselung der Geldpolitik wollen sie die Nachfrage in der Wirtschaft dämpfen und damit Druck von den Preisen nehmen.
Die drei grossen Wirtschaftsräume USA, Europa und China/Ostasien haben dabei mit unterschiedlichen Bedingungen zu kämpfen:
Die konjunkturellen Vorlaufindikatoren zeigen praktisch unisono nach unten. Die monatlich von der OECD erhobenen Indikatoren (Leading Economic Indicators) verdeutlichen die global kongruent verlaufenden Abkühlungstendenzen:
Die Einkaufsmanagerindizes (Purchasing Managers Index, PMI), die an den Finanzmärkten grosse Beachtung finden, bestätigen das Bild – wenn auch mit regionalen Unterschieden.
In den USA verharren sowohl der vom Institute for Supply Management erhobene ISM-Index wie auch der von S&P Global erhobene PMI für den Industriesektor noch über der Wachstumsschwelle von 50:
Der Dienstleistungssektor in den USA befindet sich gemäss S&P Global dagegen bereits in einer Kontraktion (der ISM-Index für den Dienstleistungssektor wird am 6. September publiziert):
In Europa oszillieren die PMI für den Industrie- und für den Dienstleistungssektor um die Wachstumsschwelle von 50:
In China liegen die Industrie-PMI leicht unter 50 und signalisieren eine Kontraktion:
Besonders ausgeprägt ist der Einbruch in Südkorea und Taiwan – zwei offene, exportorientierte Volkswirtschaften, die stark von der Nachfrage aus China sowie von der weltweiten Nachfrage nach Halbleitern und Elektronik abhängen:
Ihre Abkühlung ist kein gutes Zeichen für die Weltkonjunktur.
Bestätigt wird dieses Bild durch diverse Stimmungsindikatoren. Von den USA über Europa bis nach China liegen die Indizes des Konsumentenvertrauens auf dem tiefsten Stand seit Jahrzehnten. Auch in der Geschäftswelt – das zeigen etwa der CEO Confidence Index in den USA oder der Ifo-Geschäftsklimaindex in Deutschland – herrscht Pessimismus.
Ein lautes Rezessionssignal sendet zudem die Zinskurve in den USA, wo die Renditedifferenz zwischen Staatsanleihen mit zwei- und zehnjähriger Laufzeit tief in den negativen Bereich gefallen ist (blaue Kurve in der Grafik) – man spricht dabei von einer inversen Zinskurve, was in der Vergangenheit ein verlässliches Vorlaufsignal für eine Rezession war (grau markiert). Auch am kürzeren Ende der Zinskurve, abzulesen an der Renditedifferenz zwischen dreimonatigen und zehnjährigen Treasuries, steht eine Inversion bevor (rote Kurve):
Für eine Rezession spricht schliesslich auch die historische Erfahrung: Seit 1965 gab es in den USA insgesamt elf Zinserhöhungszyklen durch das Fed. In acht Fällen endete das geldpolitische Bremsmanöver in einer Rezession. Nur drei Mal (1965, 1983, 1993) gelang eine sanfte Landung ohne Rezession – und in keinem dieser Jahre war die Inflation annähernd so hoch wie heute.
Was verheisst das nun für die Finanzmärkte in den kommenden Monaten?
Zusammenfassend lässt sich zur Grosswetterlage sagen:
Für eine nachhaltige, positive Wende in dieser Dynamik wären politische Richtungswechsel nötig, zum Beispiel:
Wir massen uns nicht an, Prognosen zu diesen Szenarien abzugeben. Aber aus aktueller Perspektive würden wir die Wahrscheinlichkeit als gering erachten, dass eines davon eintreten wird.
Das bedeutet: Der Gegenwind an den Finanzmärkten wird steif bleiben. Ein Liquiditätsentzug und nachlassendes Wirtschaftswachstum ist eine toxische Mischung für die Aktienmärkte.
Das Szenario einer echten Rezession – also eines wirtschaftlichen Einbruchs, der auch die Unternehmensgewinne in Mitleidenschaft ziehen wird – ist an den Börsen überdies noch nicht eingepreist. Die Analysten haben ihre Gewinnschätzungen für den Median der Aktien im S&P 500 noch nicht einmal um 1% gesenkt, wie die folgende Grafik von Morgan Stanley zeigt:
Alles in allem betrachtet stehen Weltwirtschaft und Finanzmärkte daher immer noch in einem Prozess der Normalisierung: Dabei geht es um eine Bereinigung der übermässigen geld- und fiskalpolitischen Stimuli sowie um eine Bereinigung der Bewertungen an den Finanzmärkten.
Dieser Prozess dauert, und er wird von heftigen Preisausschlägen begleitet. An dessen Ende werden Investoren eine gesündere Wirtschaft und attraktivere Bewertungen an den Finanzmärkten vorfinden.
Bis dahin ist Geduld gefragt. Noch ist die Zeit nicht gekommen, um wieder mit voller Überzeugung den breiten Markt zu kaufen.
Übrigens: Über diese und weitere Themen sprechen wir im nächsten «The Big Picture Live»-Webinar am kommenden Montag, 5. September, um 16 Uhr. Abonnentinnen und Abonnenten von The Market können sich unter diesem Link registrieren.
Danke für die Zeit, die Sie uns widmen. Wir wünschen Ihnen ein angenehmes Wochenende.
Herzlich,
Mark Dittli und das Team von The Market