The Big Picture

Die Finanzmärkte und die Macht der Narrative

Der geldpolitische Schwenkkurs der US-Notenbank belastet die Märkte mehr als die Ängste um die Omikron-Virusvariante. Plus: Zwanzig Jahre BRIC – die Bilanz.

Mark Dittli
Drucken

«Sorgen um die Ausbreitung der Omikron-Variante des Coronavirus lassen die Kurse an den Aktienmärkten sinken.»

Aussagen wie diese haben Sie in den vergangenen Tagen wahrscheinlich dutzendweise gehört. Sie klingen logisch, und sie befriedigen unser Bedürfnis nach kausalen Erklärungen.

Aber stimmen sie auch?

Dieser Frage gehen wir im dieswöchigen «Big Picture» kurz nach. Danach werfen wir einen Blick auf den gegenwärtig mit Abstand wichtigsten Einflussfaktor für die Börsen, bevor wir uns einem Jubiläum der besonderen Art widmen.

Die Themen

  1. Omikron lässt die Aktienkurse sinken. Wirklich?
  2. It's the Fed, Stupid!
  3. Zwanzig Jahre BRIC: die Bilanz
  4. Wie Lieferkettenprobleme verschwinden

1. Omikron lässt die Aktienkurse sinken. Wirklich?

Zunächst: Diese Aussage ist selbstverständlich nutzlos. Die Preisfindung an den Finanzmärkten ist ein unfassbar komplexer Prozess, weshalb monokausale Erklärungen für bestimmte Bewegungen nie statthaft sind.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich auch, dass Omikron wahrscheinlich der falsche Schuldige ist (wie es, nebenbei bemerkt, genau so falsch ist, Südafrika als Ursprungsland für die Virusvariante zu bezeichnen, bloss weil das dortige Gesundheitssystem hervorragende Arbeit in der Gensequenzierung von Viren leistet): Wie unsere aktuelle «Grafik der Woche» zeigt, leiden die Aktienmärkte nämlich schon seit längerer Zeit unter Ermüdungserscheinungen. Die Marktbreite nimmt seit dem Sommer ab, und seit Anfang November hat sich der Prozess beschleunigt:

Das bedeutet: Die Hausse wird von immer weniger grosskapitalisierten Unternehmen getragen. Die wichtigsten Stützen für die US-Börse sind noch «Mega Caps» wie Apple, Microsoft und Google.

Im Nasdaq-100-Index notieren derzeit rund 40% aller Aktien unter dem Stand von Anfang Jahr, und 60% aller Valoren aus dem Index haben seit dem Erreichen ihres 52-Wochen-Hochs mehr als 10% korrigiert – mehr dazu lesen Sie im neusten «The Pulse»-Newsletter von Kollege Christoph Gisiger.

Besonders Federn lassen mussten in den vergangenen Wochen überdies typische «Stay at Home»-Aktien wie Zoom Video Communications oder Peloton, die allein im November zwischen 30 und 50% verloren haben. Auch Netflix hat in den letzten zwei Wochen mehr als 10% eingebüsst, während die «Darling-Anlage» des letzten Jahres, der ARK Innovation ETF der hochgejubelten Cathie Wood, im November gut 20% abgegeben hat.

Zu beobachten ist das Muster auch am Schweizer Börsentableau, wo der typische «Stay at Home»-Gewinner Logitech 📈 unter fortgesetztem Abgabedruck steht.

Das alles spricht dagegen, dass wir es an den Aktienmärkten bloss mit einer von der Entdeckung der Omikron-Variante ausgelösten Schockwelle zu tun haben.

Die Gründe für die Schwäche liegen tiefer, und sie sind schon seit mehreren Monaten am Werk.

2. It's the Fed, Stupid!

Der gegenwärtig wichtigste Einflussfaktor für die Finanzmärkte hat seinen Sitz im Marriner S. Eccles Building an der Constitution Avenue in Washington: das Fed.

Unter der Führung von Jerome Powell hat die US-Notenbank seit den Sommermonaten schrittweise eine verbale Drosselung der Geldpolitik eingeleitet. Anfang November beschloss der Fed-Offenmarktausschuss sodann die Reduktion der monatlichen Anleihekäufe (Tapering) – zunächst noch mit einem Tempo, das das Ende des Quantitative-Easing-Programms per Juni 2022 erwarten liess:

Doch diverse Exponenten des Fed, am Dienstag zuletzt auch Powell selbst in seinem Auftritt vor dem Kongress, haben in der Zwischenzeit durchblicken lassen, dass angesichts der erhöhten Inflationsraten im Land ein rascheres Tempo für das Tapering angebracht sein könnte.

Statt per Juni könnte das Bond-Kaufprogramm damit bereits per März oder April 2022 beendet werden. Das ist deshalb wichtig, weil das Tapering nach Aussagen Powells abgeschlossen sein muss, bevor das Fed erste Erhöhungen der Leitzinsen beschliesst. Mit einem rascheren Tapering wird also die Option geschaffen, die Leitzinsen früher zu erhöhen, wenn nötig bereits im Mai 2022.

Noch ist das freilich nicht in Stein gemeisselt; eine formelle Beschleunigung des Taperings könnte aber an der nächsten Fed-Sitzung vom 14. und 15. Dezember verabschiedet werden. Powell und seine Kolleginnen und Kollegen aus dem Offenmarktausschuss haben in den vergangenen Tagen jedenfalls keinen Zweifel daran gelassen, dass sie die Finanzmärkte verbal auf dieses Szenario vorbereiten wollen.

Die Bedeutung dieses marginalen Stimmungswandels an der Spitze des Fed ist nicht zu unterschätzen: Wenn sich die Börsen seit dem Corona-Crash Ende März 2020 auf etwas verlassen konnten, dann war es die uneingeschränkte Unterstützung durch das Fed in Form weit geöffneter Liquiditätsschleusen. Nun wird diese Liquidität allmählich reduziert, und entsprechend zeigen die Märkte Symptome von Entzugserscheinungen.

Auch die Fed-Verantwortlichen können sich dem Druck, den die erhöhte Inflation in der amerikanischen Öffentlichkeit und im Politbetrieb ausüben, also nicht entziehen. Powell sagte vor dem Kongress sogar, es sei wohl an der Zeit, in Bezug auf die Inflation den Begriff «transitory» (vorübergehend) in Rente zu schicken.

Das Signal, dass das Fed wenn nötig rascher in den Modus der Inflationsbekämpfung schwenken wird, ist zumindest am Bondmarkt bereits angekommen. Die Renditen langfristiger US-Staatsanleihen sind gesunken – im Fall der Dreissigjährigen sogar auf den niedrigsten Stand seit Januar –, und entsprechend hat sich die Zinsstrukturkurve weiter abgeflacht. Seit Ende März hat sich die Renditedifferenz zwischen 30-jährigen und fünfjährigen US-Staatsanleihen um rund 100 Basispunkte verringert.

Auch die vom Bondmarkt induzierten Inflationserwartungen haben sich zurückgebildet. Der aus Sicht des Fed wichtigste Indikator der Inflationserwartungen, die 5-year/5-year Forward Breakeven Rate, ist unter 2,2% gesunken:

Der Bondmarkt vertraut also offenbar darauf, dass das Fed nicht zögern wird, geldpolitisch härter auf die Bremse zu treten, um die Inflation zu bekämpfen.

Am Aktienmarkt kommt diese Botschaft erst allmählich an.

3. Zwanzig Jahre BRIC: die Bilanz

Anleger mögen Narrative. Und Banken verkaufen gerne Produkte, die um «heisse» Narrative konzipiert sind.

Eines der einprägsamsten Finanzmarkt-Narrative der vergangenen Jahre hiess «BRIC»: Das Akronym stand für die aufstrebenden Märkte Brasilien, Russland, Indien und China sowie stellvertretend für die gesamte Anlageklasse der Emerging Markets.

Urheber des BRIC-Akronyms war Jim O'Neill, Chefökonom von Goldman Sachs. In einem am 30. November 2001 publizierten Strategiepapier mit dem Titel «Building Better Global Economic BRICs» argumentierte O'Neill vor 20 Jahren, Investoren könnten es sich nicht leisten, das Wachstumspotenzial der Schwellenländer zu ignorieren. Das Papier erschien elf Tage bevor die Volksrepublik China in Doha feierlich in die Runde der Welthandelsorganisation WTO aufgenommen wurde.

Angenommen, Sie hätten den Ratschlag O'Neills befolgt, am 30. November 2001 Aktien aus Brasilien, Russland, Indien und China gekauft und diese Aktien dann für 20 Jahre vergessen: Was wäre daraus geworden?

Die folgende Grafik zeigt die Kursentwicklung der Aktienmärkte der vier Länder, jeweils auf Basis der Indizes von MSCI, inklusive Dividenden, in Dollar gerechnet. Zum Vergleich haben wir den MSCI USA (schwarz) und den MSCI Switzerland (violett), ebenfalls inklusive Dividenden und in Dollar, angefügt:

O'Neills Bilanz kann sich sehen lassen: Spitzenreiter über 20 Jahre war Indien, dessen Aktienmarkt bis heute in Dollar gerechnet eine Verzwölffachung erreicht hat. China und Russland haben mit ihrer Kursperformance die USA und die Schweiz ebenfalls geschlagen, Brasilien kommt mit einer Verfünffachung auf den gleichen Wert wie die USA und die Schweiz.

So weit, so gut.

Allerdings wird bei der Betrachtung der Grafik sofort klar, dass die BRIC-Staaten vor allem in der Zeit zwischen 2001 und 2008 ihren Boom erlebten, während der US-Aktienmarkt nach dem Platzen der Technologieblase zunächst einen fast dreijährigen Bärenmarkt durchlief.

Hier daher der Blick auf die BRIC-Story der ersten zehn Jahre, von 2001 bis 2011. Zur besseren Veranschaulichung der prozentualen Kursbewegungen haben wir eine logarithmische Skala gewählt:

Wer nach der Publikation von O'Neills Papier den Aktienmarkt in Brasilien (grün) kaufte, erlitt zwar zunächst einen Rückschlag, erreichte aber bis Mai 2008 eine Verzehnfachung seines Einsatzes. Auch Russland, China und Indien erreichten eine blendende Performance und liessen die Schweiz und die USA weit hinter sich.

Der Einbruch während der Finanzkrise von 2008 und 2009 war für die BRIC überaus hart, doch sie erholten sich bis 2011 rasch wieder.

Ganz anders sieht es jedoch im zweiten Teil der BRIC-Story aus, in den zehn Jahren zwischen 2011 und 2021:

Brasilien ist seit zehn Jahren eine Enttäuschung, Russland über weite Strecken ebenfalls. Den USA (schwarz) vermochte in der vergangenen Dekade keiner der BRIC-Märkte das Wasser zu reichen, auch der Schweizer Aktienmarkt hat besser abgeschnitten als die vier BRIC.

Eindrücklich zu sehen ist der Rückschlag Chinas (rot) ab Anfang 2021, seit dem Beginn der konjunkturellen Abkühlung der Volksrepublik und dem harten regulatorischen Vorgehen gegen chinesische Internetkolosse wie Alibaba und Tencent, die im MSCI China ein grosses Gewicht haben. Indien (gelb) hat dadurch den asiatischen Lokalrivalen überholt und sich im Feld der Emerging Markets an die Spitze gesetzt.

Fazit: Das BRIC-Narrativ hat in den Jahren bis zur Finanzkrise von 2008 hervorragend funktioniert, war aber in den Jahren zwischen 2011 und 2021 ein Reinfall.

Man kennt es aus Hollywood: Wie immer, wenn ein Narrativ gut funktioniert, muss ein Sequel her. Die Fortsetzung für die BRIC waren die «Next Eleven», eine Gruppe von Entwicklungs- und Schwellenländern, die nach Ansicht der Strategen von Goldman Sachs das Potenzial hatten, in die obere Liga aufzusteigen.

Das entsprechende Strategiepapier publizierten sie am 18. April 2007 unter dem Titel «Beyond the BRICs: A look at the Next 11». Die elf Hoffnungsträger waren damals Südkorea, Indonesien, Mexiko, Nigeria, die Philippinen, Bangladesh, Ägypten, Iran, Pakistan, die Türkei und Vietnam.

Wer im April 2007 auf diese elf Länder gesetzt hat, ist bis heute allerdings nicht weit gekommen, wie die folgende Grafik zeigt:

Die Next Eleven – in der Definition von MSCI ohne Iran – haben sich seit 2007 seitwärts entwickelt und liegen weit hinter den USA und der Schweiz zurück. Mit Abstand der beste Markt in der Gruppe war übrigens Südkorea; ohne die Börse in Seoul sähe die Bilanz der Next Eleven noch weit schlechter aus.

Wir verzichten an dieser Stelle darauf, einen Blick in die Zukunft zu wagen. Nur so viel: Genau so, wie die BRIC gegen Ende der Nullerjahre die Lieblinge an den internationalen Finanzmärkten waren, ist es heute der US-Aktienmarkt, der die Favoritenlisten anführt. Parallelen zur Periode des «irrationalen Überschwangs» Ende der Neunzigerjahre lassen sich ziehen – etwa hier von Kollege Sandro Rosa.

Und selbstverständlich sehen wir auch heute wieder ein einprägsames Narrativ, das sich mit dem griffigen Akronym FAANG (Facebook, Amazon, Apple, Netflix, Google) zusammenfassen lässt...

4. Wie Lieferkettenprobleme verschwinden

Zum Schluss noch ein Seitenblick, den wir Ihnen nicht vorenthalten möchten. Sie haben wahrscheinlich auch schon Meldungen gelesen, dass vor den Häfen von Los Angeles und Long Beach Dutzende von Containerschiffen vor Anker liegen, die darauf warten, ihre Fracht zu löschen. Christoph Gisiger geht im «The Pulse» auch regelmässig darauf ein. Der Stau vor den wichtigsten Häfen der USA ist zum Symbol für die verstopften Lieferketten geworden.

Mitte November lagen 80 Containerschiffe vor der San Pedro Bay vor Anker – ein Rekordwert. Doch in den letzten zwei Wochen hat sich die Zahl der wartenden Frachtschiffe auf wundersame Weise auf 40 halbiert.

Ist das ein Zeichen, dass sich die Knoten in den Lieferketten lösen?

Gemach. Wie der Chicagoer Marktbeobachter Jim Bianco in seinem Wochenrückblick schreibt, gab es offenbar eine neue Direktive seitens der US-Behörden: Diese hat die Reedereien angewiesen, ihre Frachtschiffe mindestens 150 Seemeilen vor der Küste der USA warten zu lassen. Und damit wurden sie – magic! –von der Hafenbehörde von Los Angeles und Long Beach nicht mehr gezählt.

Die untenstehende Grafik von Bianco zeigt den Effekt der Direktive: Gemäss dem alten System warten per 30. November rund 40 Containerschiffe (blau) auf Einlass in die San Pedro Bay. 50 weitere Schiffe (rot) warten allerdings 150 Seemeilen weiter entfernt auf dem Pazifik, bis sie in L.A. einlaufen können:

Quelle: Bianco Research

Keine Spur also von einer Entspannung in den Lieferketten.

Ein Hinweis noch in eigener Sache: Das nächste «The Big Picture Live»-Webinar findet am kommenden Montag, 6. Dezember, um 16 Uhr statt. Abonnentinnen und Abonnenten von The Market können sich unter diesem Link registrieren. Schauen Sie rein, wir freuen uns auf Sie.

Vielen Dank für die Zeit, die Sie uns widmen. Wir wünschen Ihnen ein angenehmes Wochenende. Bleiben Sie gesund!

Herzlich,

Mark Dittli und das Team von The Market