Die Börsen jubilieren nach den jüngsten Inflationsdaten in den USA. Doch mit Blick auf 2023 rückt das Thema Rezession in den Fokus – und die Frage, wie die Aktienmärkte damit umgehen.
«Häufig haben die Währungshüter in die richtige Richtung gehandelt, wenn auch oft zu spät. Und dann haben sie einen Fehler gemacht, indem sie zu weit gegangen sind. Zu spät und zu weit ist die allgemeine Praxis gewesen (...). Der Grund für die Neigung zur Überreaktion scheint klar zu sein: das Versäumnis der Währungshüter, die Verzögerung zwischen ihren Massnahmen und deren Auswirkungen auf die Wirtschaft zu berücksichtigen. Sie neigen dazu, ihre Massnahmen von den heutigen Bedingungen abhängig zu machen – obwohl sie sich auf die Wirtschaft erst sechs oder zwölf oder fünfzehn Monate später auswirken. Daher fühlen sie sich gezwungen, zu stark auf die Bremse oder das Gaspedal zu treten.»
Milton Friedman, Amerik. Ökonom (1912–2006)
Milton Friedman äusserte diese Worte im Dezember 1967 in einer Rede mit dem Titel «The Role of Monetary Policy» vor der American Economic Association in Washington.
Sie sind heute noch genau so treffend wie vor 55 Jahren. Geldpolitik ist ein stumpfes Instrument, Zentralbanken können den Gang der Wirtschaft nicht feinsteuern. Sie mögen zwar glauben, sie könnten es, doch das ist eine Illusion.
Die historische Erfahrung ist, dass die Zentralbanken übersteuern; dass sie zu spät handeln und dann zu weit gehen. Und wenn sich die Geschichte reimt, dann dürfte dieses Übersteuern Wirtschaft und Finanzmärkte im kommenden Jahr prägen.
Wir werfen im dieswöchigen «Big Picture» deshalb einen ersten Blick auf 2023. Zuerst widmen wir uns aber kurz dem wichtigsten Ereignis der Woche, der Publikation der Inflationszahlen in den USA.
Mehrmals haben sich die Börsen im laufenden Jahr in die Hoffnung gesteigert, der Inflationsdruck möge endlich nachlassen und der US-Notenbank (Fed) erlauben, einen weniger harten Kurs in der Straffung ihrer Geldpolitik einzuschlagen. Und mehrmals haben sich die Marktteilnehmer damit eine blutige Nase geholt.
Diese Woche ging es endlich mal in die andere Richtung. Die am Donnerstag publizierten Inflationsdaten für den Monat Oktober fielen durchwegs besser aus als erwartet. Die Teuerung stieg im Jahresvergleich noch um 7,7%, nach 8,3% im Vormonat (blaue Kurve). Die Kernrate (rot), ohne Nahrungsmittel und Energie, ermässigte sich leicht auf 6,3%:
Selbstredend sind das immer noch unangenehm hohe Werte, aber die marginalen Bewegungen festigen immerhin die These, dass der Höhepunkt des Inflationsdrucks überschritten ist.
Unterstützt wird diese Annahme von den Inflationsdaten der Distriktnotenbank Cleveland (Median und Trimmed Mean) sowie vom Sticky-Price-Index der Distriktnotenbank Atlanta. Diese Barometer glätten die statistischen Ausreisser und zeigen erstmals Zeichen eines Nachlassens des Drucks:
Die Terminmärkte gehen nun mit einer Wahrscheinlichkeit von 85% davon aus, dass das Fed-Führungsgremium an seiner nächsten Sitzung vom 14. Dezember den Leitzins «nur» um 50 Basispunkte (Bp) erhöhen wird, nicht wie in den letzten vier Sitzungen um 75 Bp.
Bis zur Sitzung vom 14. Dezember werden die Fed-Verantwortlichen noch einen Arbeitsmarktbericht (2. Dezember) sowie den Inflationsbericht für November (13. Dezember) «verdauen» können, bevor sie den Zinsentscheid fällen.
Doch die Stimmung an den Märkten war derart negativ – wie es auch das The Market Risk Barometer zeigte –, dass die Aussicht auf eine leichte Verlangsamung des Tempos weiterer Zinserhöhungen bereits reichte, um eine kräftige Erholungsrally auszulösen.
War's das nun mit dem Bärenmarkt, der die breiten Aktienindizes seit Beginn des Jahres belastet hat?
Leider ist es zu früh, diese Entwarnung zu geben.
Sollte sich in den kommenden Monaten das Bild bestätigen, wonach der Inflationsdruck seinen Höhepunkt überschritten hat, dann ist erst Phase eins des Bärenmarktes vorbei: die durch den Zinsanstieg ausgelöste Kontraktion in den Aktienbewertungen.
Doch damit rückt die zweite Phase in den Fokus. Sie dreht sich um die Frage, ob der Wirtschaft eine Rezession droht.
Gehen wir dieser Frage also nach.
«Es gibt zwei Arten von Prognostikern», sagte der Ökonom John Kenneth Galbraith, «die, die nichts wissen, und die, die nicht wissen, dass sie nichts wissen.»
Wir teilen diese Meinung. Punktgenaue Vorhersagen zum Verlauf von Wirtschaft und Börsen sind unnütz; sie werden der komplexen, adaptiven Natur der Märkte nicht gerecht. Insofern verstehen wir unseren Blick auf das Makro-Umfeld im kommenden Jahr nicht als Prognose, sondern wir versuchen, uns an den Signalen zu orientieren, die die Märkte bereits senden.
Beginnen wir mit der wichtigsten Volkswirtschaft, den USA.
In den Jahren seit 1965 führte das Fed insgesamt elf Zinserhöhungszyklen durch. Acht davon endeten in einer Rezession. Nur schon der Blick auf die Historie zeigt also, dass es dem Fed in der Regel nicht gelingt, eine «sanfte Landung» – definiert als Zinserhöhungszyklus ohne Rezession – zu vollbringen.
Eine harte Landung ist die Norm, nicht die Ausnahme.
Die konjunkturellen Vorlaufindikatoren weisen bereits in diese Richtung. Der vielbeachtete ISM-Einkaufsmanagerindex des Industriesektors ist im Oktober auf 50,2 gefallen und liegt damit nur noch minimal über der Wachstumsschwelle von 50. Der Dienstleistungssektor zeigt sich noch etwas robuster, doch auch dort zeigt der ISM-Index nach unten:
Die von den Distriktnotenbanken von New York, Philadelphia, Richmond und Chicago erhobenen regionalen Konjunkturindizes, die dem nationalen ISM-Index leicht vorlaufen, signalisieren bereits eine Kontraktion der wirtschaftlichen Dynamik.
Auch der von der Forschungsanstalt Conference Board erhobene Sammelindex der vorlaufenden Konjunkturindikatoren (Leading Economic Indicators), sendet ein Rezessionssignal; er ist seit sieben Monaten ohne Unterbruch gesunken:
Der Bondmarkt teilt die Diagnose. Mehrere Segmente der Zinskurve handeln seit gut einem halben Jahr in der Inversion. Am 25. Oktober ist auch das letzte Segment, die Renditedifferenz zwischen dreimonatigen und zehnjährigen US-Staatsanleihen, in die Inversion gefallen. Das war in der Vergangenheit stets ein verlässliches Signal für eine nahende Rezession.
Die Distriktnotenbank New York erhebt auf Basis der Struktur der Zinskurve einen Recession Probability Index. Aktuell liegt dieser um 25. Sobald sich der Index in der Vergangenheit jeweils einem Wert von 30 genähert hatte, war eine Rezession bereits Tatsache:
Auffällig ist überdies der Kollaps der Wachstumsrate der breiten Geldmenge M2, ein Annäherungswert für das Nominalwachstum der Wirtschaft: Aktuell expandiert M2 noch mit 2,6%, was zum Hinweis Milton Friedmans passt, dass die Währungshüter in der Regel übersteuern:
Insgesamt lässt sich aus diesen Indikatoren der Schluss ziehen, dass die US-Wirtschaft im Lauf des Jahres 2023 mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine Rezession fallen wird.
Bereits ein Stück weiter auf dem Pfad zur Rezession sind die wichtigsten Volkswirtschaften Europas inklusive Grossbritannien. Der Energiepreisschock belastet die Konsumausgaben und drückt auf die Gewinnmargen der Unternehmen. Die Einkaufsmanagerindizes in Europa sind bereits unter die Wachstumsschwelle von 50 gefallen:
Die EU-Kommission selbst geht in ihrer aktuellen Herbstprognose davon aus, dass Europas Wirtschaft im Winter in eine Rezession rutschen wird.
Die zweitwichtigste Volkswirtschaft der Welt schliesslich, China, kämpft mit hausgemachten Problemen. Die von der Parteiführung auferlegte Zero-Covid-Politik sowie der seit mehr als einem Jahr anhaltende Abschwung des Immobiliensektors haben Chinas Wirtschaft bereits 2022 in eine Stagnation gedrückt.
Die Konsumentenstimmung ist auf den tiefsten je gemessenen Wert gefallen:
Wichtigster Wachstumstreiber für die Volksrepublik waren 2022 die Exporte – doch mit der Abkühlung der USA und Europas ist das Wachstum in Chinas Ausfuhren im Oktober zum Erliegen gekommen und sank mit 0,3% im Vergleich zum Vorjahr sogar leicht.
Offiziell weist China zwar positive Wachstumsraten aus, aber nach praktischen Gesichtspunkten betrachtet steckt das Land bereits in einer Rezession.
Nachhaltige Wachstumsimpulse würde erst eine Lockerung der Zero-Covid-Politik bringen, was eine Welle an aufgestautem Konsum auslösen könnte. Die Signale aus Peking sind diffus, aber mit einem allzu raschen Ende der Zero-Covid-Politik ist nicht zu rechnen, zumal mit dem Beginn der Wintermonate die Covid-Infektionszahlen wieder steigen:
Nach wie vor ein Problem ist die Tatsache, dass die älteren Menschen zu wenig geschützt sind. Gemäss Christopher Wood, Chefstratege von Jefferies, haben 25 Mio. Chinesinnen und Chinesen im Alter über 60 noch keine Impfung erhalten. Weitere elf Millionen haben bloss eine Dosis, und 47 Mio. sind mit zwei Impfdosen ohne Booster nur mässig geschützt:
Aus aktueller Perspektive muss davon ausgegangen werden, dass nennenswerte Lockerungen in Chinas Covid-Politik kaum vor Frühjahr beschlossen werden können.
Insgesamt lässt sich damit folgendes Fazit ziehen:
Daraus ergibt sich ein düsterer Konjunkturausblick für 2023. Die Ökonomen der UBS rechnen für 13 der 32 wichtigsten Volkswirtschaften mit einer Rezession und – abgesehen von 2020 (Pandemie) und 2009 (Finanzkrise) – dem schwächsten Weltwirtschaftswachstum seit 1993.
Positive Impulse gäbe eine Lockerung der Zero-Covid-Politik, zumal in China die Inflation mit 2,1% kein Problem darstellt und die Zentralbank eine stimulative Geldpolitik beschliessen könnte. Aber dieses Szenario ist von der Politik in Peking abhängig.
Was bedeutet dieser Ausblick für die Aktienmärkte?
Dabei geht es zuerst um die Frage, ob das Szenario einer Rezession in den Aktienkursen bereits eingepreist ist und, zweitens, wie sich die Börsen in früheren Rezessionsphasen verhalten haben.
Wir orientieren uns in den folgenden Überlegungen am S&P 500, weil er als Leitindex den Weltbörsen den Takt vorgibt.
In einer Rezession geraten je nach Konjunktursensitivität der Branche die Gewinnmargen unter Druck, und die Gewinne der Unternehmen sinken. Je nach Schwere der Rezession haben die im S&P 500 enthaltenen US-Konzerne in der Vergangenheit in diesen Phasen jeweils einen Gewinnrückgang von 5 bis 10% erlitten.
Ein Blick auf die Gewinnschätzungen der Analysten zeigt, dass dieses Szenario noch nicht in den Erwartungen eingepreist ist. Für 2023 rechnen die Analysten für die S&P-500-Konzerne aktuell noch mit einem aggregierten Gewinn von gut 236 $ je Aktie (blaue Kurve), was verglichen mit dem geschätzten Gewinn für 2022 einem Wachstum von 6,5% entspricht:
Zwar sinken die Gewinnschätzungen seit Juli, aber diese Arbeit ist noch nicht abgeschlossen. Sie werden im Verlauf der kommenden Monate weiter sinken, während sich das Szenario einer Rezession festigt. Dieser Prozess wird von enttäuschenden Ausblicken seitens der Unternehmen sowie von Kurszielsenkungen der Analysten begleitet sein.
Spannend ist die Frage, wann die Dynamik dreht und die Aktienmärkte beginnen, den nächsten Aufschwung nach der Rezession ins Auge zu fassen.
Dazu gibt uns die Historie Anschauungsunterricht.
Die folgenden zwei Grafiken zeigen den S&P 500 im Zeitraum von 1966 bis 1986 sowie von 1988 bis 2022. Damit sind alle acht Rezessionen (grau markiert) der letzten sechs Jahrzehnte abgedeckt:
Wie sich deutlich zeigt, erreicht der S&P 500 in der Regel während der Rezession seinen Tiefpunkt, bevor ein neuer Aufschwung beginnt. Das war in sieben der acht untersuchten Rezessionen der Fall. Einzige Ausnahme ist die Rezession von 2001, als die Baisse erst ein gutes Jahr später, Ende 2002, endete.
In keinem der Fälle jedoch gelang es dem Aktienmarkt, bereits vor dem Beginn der Rezession einen neuen Aufschwung zu starten.
Das führt uns zur Frage, wann denn die aktuell erwartete Rezession beginnt – oder ob sie bereits begonnen hat. Leider lässt sich diese nicht präzise beantworten, da Rezessionen in der Regel erst im Nachhinein als solche definiert werden.
Doch auch hier liefert die Historie Anschauungsunterricht, nämlich anhand der Zinskurve und des Fed-Leitzinses. Wir beschränken uns dabei auf den Zeitraum von 1988 bis heute, was die letzten vier Rezessionen abdeckt.
Hier die Zinskurve, gemessen an der Renditedifferenz zwischen zwei- und zehnjährigen US-Staatsanleihen:
Die Grafik zeigt deutlich: Die Zinskurve fällt rund ein Jahr vor der Rezession in die Inversion, dreht aber noch vor ihrem Beginn wieder in den positiven Bereich. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem Bull Steepener, wenn die kurzfristigen Zinsen schneller fallen als die langfristigen und die Zinskurve dadurch steiler wird.
Und hier die Entwicklung des Fed-Leitzinses im gleichen Zeitraum:
Auch hier ist schön zu sehen: Die Rezession beginnt jeweils erst, wenn das Fed die Zinserhöhungen beendet und meist sogar schon mit ersten Zinssenkungen begonnen hat.
Damit lässt sich folgende Sequenz ableiten:
Gewiss: Jeder Zyklus ist einzigartig. Die Geschichte wiederholt sich nicht, sie reimt sich bloss.
Doch das historische Muster zeigt, dass es deutlich zu früh ist, bereits die Wende am Aktienmarkt auszurufen. Die Vorfreude über das baldige Ende der Fed-Zinserhöhungen ist mit Vorsicht zu geniessen. Die Zinskurve liegt noch tief in der Inversion, die Rezession hat noch nicht begonnen. Und damit dürfte auch der Aktienmarkt seinen Tiefpunkt in diesem Zyklus noch nicht gesehen haben.
Das wäre nur dann der Fall, wenn es nicht zu einer Rezession kommt – wobei die Wahrscheinlichkeit gegen dieses Szenario spricht.
Sind wir schon da?, fragen die Kinder auf dem Rücksitz.
Nein.
Eine Kakerlake kommt nie allein.
An diese Weisheit fühlen wir uns erinnert, wenn wir von der Implosion der Kryptowährungs-Plattform FTX lesen. Wir wollen hier nicht in die Details gehen und verweisen dazu auf den Beitrag des Kollegen Henning Hölder.
Nur so viel: Der Krypto-Hype der vergangenen zweieinhalb Jahre war in erster Linie ein Liquiditäts-Hype, angefeuert von der expansiven Geldpolitik des Fed.
Und kaum wird die Liquidität entzogen, krachen die Krypto-Kartenhäuser zusammen.
Zuerst war es das Gespann Terra/Luna, dann der Hedge Fund Three Arrows Capital, dann die Krypto-Plattform Celsius – und nun eben FTX. Hinter dem vollmundigen Krypto-Blabla steht dann doch oft nur profaner Leverage. Und immer, wenn sich die Flut zurückzieht und die Liquidität versiegt, sieht man, wer ohne Badehose geschwommen ist. Da nützt es den Nackten nichts, wenn sie kurz zuvor noch als «der nächste Warren Buffett» angepriesen wurden. Das macht den Anblick nicht schöner.
Der Krypto-Winter ist noch nicht vorbei. Oder, um beim Bild zu bleiben: Mit weiteren Kakerlaken ist zu rechnen.
Nächste Woche haben wir gleich zwei Video-Webinare für Sie im Angebot:
Das nächste «The Big Picture Live»-Webinar findet am Montag, 14. November, um 16 Uhr statt. Abonnentinnen und Abonnenten von The Market können sich unter diesem Link registrieren.
Am Mittwoch, 16. November, um 16 Uhr sprechen wir mit Dr. Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie für Deutschland, die Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock, über die Aussichten an den Finanzmärkten. Sie können sich unter diesem Link für die Teilnahme registrieren.
Danke für die Zeit, die Sie uns widmen. Wir wünschen Ihnen ein angenehmes Wochenende.
Herzlich,
Mark Dittli und das Team von The Market